Nordirak:Kurden stimmen über ihre Freiheit ab

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  • Die Kurden im Nordirak stimmen über ihre Unabhängigkeit ab. Wahlberechtigt sind 5,3 Millionen Menschen.
  • Erst ein Bruchteil der Stimmen ist ausgezählt, doch das Ja-Lager liegt mit mehr als 90 Prozent deutlich vorne.
  • Das Referendum ist rechtlich nicht bindend.
  • In Bagdad und der Türkei wird der Ton rauer.

Von Paul-Anton Krüger, Erbil

Mahmud hält den Finger in das Plastikgefäß mit violetter Tinte. Der Vater hat den Dreijährigen hochgehoben zum Tisch der Wahlhelfer. "40 Jahre haben wir auf diesen Moment warten müssen", sagt der Vater, wie der Sohn gekleidet in Ranku Chokhal, die kurdische Tracht aus weiter Hose und Hemd, die mit einem breiten Stoffgürtel umschlungen werden. Zusammen mit seiner Frau ist er zur Abstimmung in ein Wahllokal im überwiegend von Christen bewohnten Viertel Ankawa gekommen, in Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomiegebiete im Irak. Keine Frage, er hat mit Ja gestimmt, wie die ganze Familie. "Die Unabhängigkeit ist der Wunsch aller Kurden", sagt er. Und der kleine Mahmud soll diesen historischen Tag miterleben.

Vor manchen Wahllokalen bilden sich am Montagmorgen Schlangen, bis sie um acht Uhr zur Stimmabgabe öffnen. Hupende Autokorsos fahren schon am Nachmittag durch die Stadt, bevor Ergebnisse bekannt sind. Zum Zeitpunkt der geplanten Schließung der Wahllokale um 18 Uhr liegt laut dem Fernsehsender Rudaw die Beteiligung bei 78 Prozent. Am Abend wird die Abstimmung um eine Stunde verlängert. Als um 22 Uhr Ergebnisse aus den ersten Wahllokalen gemeldet werden, bricht Jubel los, Feuerwerksraketen steigen auf, die Menschen schwenken kurdische Fahnen. Gut 93 Prozent Zustimmung. Zwar war erst ein Bruchteil der Stimmen ausgezählt, doch alles deutet auf ein sehr klares "Ja" hin.

Die Regionalregierung von Präsident Massud Barzani hat 70 Prozent in den Autonomiegebieten als Erwartung formuliert, was wohl eher niedrig gegriffen war. In den Gebieten, über die Regional- und Zentralregierung streiten, würde bereits eine Zustimmung von mehr als 50 Prozent als Erfolg gewertet. Allerdings hatten in Kirkuk die Turkmenische Front und arabische Gruppen zum Boykott aufgerufen.

Fast jede kurdische Familie verlor Angehörige und Besitz, fast jede träumt vom eigenen Staat

Berechtigt zur Teilnahme an der rechtlich nicht bindenden Abstimmung waren laut Wahlkommission 5,3 Millionen Menschen. 3,3 Millionen von ihnen wohnen in den Provinzen Erbil, Sulaimaniyah, Dohuk und Halabja, die zu der von Bagdad anerkannten Autonomieregion gehören. Weitere 1,9 Millionen potenzielle Wähler leben in Hoheitsgebieten von Bagdad, die aber von Kurden kontrolliert werden - 800 000 von ihnen leben allein in Kirkuk. Die Spannungen um die Provinz waren in den vergangenen Tagen gestiegen.

Es findet sich kaum eine kurdische Familie im Nordirak, die nicht in den vergangenen Jahrzehnten Angehörige und Besitz verloren hat - in den Achtzigern im Vernichtungsfeldzug der Operation Anfal, bei der Diktator Saddam Hussein auch Chemiewaffen einsetzte, oder im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), den die Peschmerga seit Sommer 2014 führen. Sie trauen Bagdad nicht mehr, noch weniger die Kurden in den umstrittenen Gebieten: Eine sichere Zukunft ist aus ihrer Sicht nur garantiert, wenn sie zu Kurdistan gehören.

Viele Minderheiten in den vom IS befreiten Gebieten betrachten die Zugehörigkeit der umstrittenen Gebiete ebenfalls als existenzielle Frage: Vor allem die aus den Dörfern der Niniveh-Ebene südöstlich von Mossul geflohenen Christen sehen keine Möglichkeit, dauerhaft in ihre vom IS gebrandschatzten Dörfer zurückzukehren, wenn diese wieder unter die Kontrolle Bagdads kommen. Zugleich fürchten viele Minderheiten, dass ihre Rechte letztlich auch in einem Kurdenstaat nicht gewahrt werden.

Die Lage der Jesiden ist kompliziert

Kompliziert ist die Lage für die geschätzt 400 000 Jesiden, an deren Volk der IS Massenmord begangen hat. Während etwa in Baschiqa auf halbem Weg zwischen Erbil und Mossul der Gemeinderat einstimmig für das Referendum stimmte, sehen es Jesiden im Sindschar-Gebirge mit gemischten Gefühlen. Dort haben sich Milizen mit engen Verbindungen zur PKK gebildet, die weder die Regionalregierung noch die Türkei dulden wollen. Überdies leben viele Minderheiten an den Rändern der Kurden-Gebiete - Gegenden, die zuerst unter neuen Auseinandersetzungen leiden würden.

Bis zum Nachmittag verlief die Abstimmung weitgehend geordnet und ruhig. In Tuz Khurmatu wurde ein Peschmerga getötet und ein weiterer schwer verletzt. Sie sollen von einer turkmenisch-schiitischen Miliz beschossen worden sein. Aus Kirkuk wurden keine Zwischenfälle gemeldet, am Abend wurde aber eine Ausgangssperre verhängt. Das von schiitischen Parteien dominierte Parlament in Bagdad forderte, Truppen in alle umstrittenen Gebiete zu entsenden, die von der Armee kontrolliert wurden, bevor diese 2014 vor dem IS floh. Zudem soll die kurdische Regionalregierung die Kontrolle über alle Außengrenzen einschließlich der Flughäfen abgeben. Die praktischen Auswirkungen waren unklar. Ein Versuch irakischer Truppen oder schiitischer Milizen, etwa in Kirkuk einzumarschieren, würde wohl zu Krieg führen.

Auch die Nachbarstaaten steigerten den Druck auf Erbil erneut: Der türkische Präsident Recep Tayip Erdoğan erklärte, die Landgrenzen würden geschlossen: "Dann werden wir ja sehen, wem sie ihr Öl verkaufen", sagte er. Der Ölexport, auch aus den umstrittenen Gebieten, ist wichtigste Einnahmequelle der Regionalregierung. Erdoğan drohte auch eine Militärintervention an. Iran kündigte an, nach dem Luftraum auch die Landgrenzen zu schließen.

© SZ vom 26.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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