Nordafrika:Trotz EU-Milliarden laufen Reformen in Tunesien zäh

Protesters shout slogans during a march, demanding equal inheritance rights for women, in Tunis

Noch prägen viele Missstände die tunesische Gesellschaft: Anfang März demonstrierten Frauen in der Hauptstadt für Gleichberechtigung.

(Foto: REUTERS)
  • Auf fast zehn Milliarden Euro taxiert die EU die für Tunesien bereitgestellten Mittel seit 2011.
  • Doch bei Themen wie dem Abbau von Bürokratie und der Jugendarbeitslosigkeit gibt es kaum Fortschritte. Zumindest die Start-up-Szene sorgt für Aufbruchsstimmung.

Von Daniel Brössler, Tunis

Alles fing an mit einer Idee, die mit auch nur einem Funken Vernunft wohl sofort hätte begraben werden müssen. "Es war verrückt. Jeder hat das gesagt", erinnert sich Omar Guiga an den Beginn. Damals, das war 2006, machten er und sein Bruder sich daran, einen Traum zu verwirklichen. Sie wollten Autos bauen. In Tunesien, wo noch nie Autos produziert worden waren. Omar war 22 Jahre alt und kam gerade vom Jura-Studium aus London, sein drei Jahre älterer Bruder Zied hatte in der Schweiz Hotelmanagement gelernt. Mittlerweile produziert Wallyscar, die Firma der Gebrüder Guiga, mit 35 Leuten 200 in Handarbeit sandpistentaugliche Autos im Jahr. Die Hälfte davon verkauft sie nach Europa, vor allem nach Frankreich.

Neulich war einer vom Internationalen Währungsfonds da, erzählt Guiga. Im lässigen Sakko, Jeans und Sneakern steht er in einer properen 2000 Quadratmeter großen Produktionshalle, in der Mechaniker an einem fast fertigen Modell gerade die Türen anschrauben. Wenn es überall so aussähe, habe der Mann vom IWF gesagt, gäbe es keine Probleme. Doch in Tunesien sieht es sieben Jahre nach der Revolution, die im Januar 2011 mit der Selbstverbrennung eines verzweifelten Gemüsehändlers begonnen hatte, nicht überall so aus. Der Wohlstand lässt auf sich warten. Im Unterschied zu allen anderen Ländern der Region aber folgte in Tunesien auf den Arabischen Frühling kein diktatorischer Winter. Die Demokratie hat sich behauptet, weshalb auf dem kleinen Tunesien riesige Hoffnungen liegen - vor allem seitens der Europäischen Union.

Das nordafrikanische Land darf sich "privilegierter Partner" nennen und er-hält von der EU mehr Unterstützung als alle anderen Länder in der südlichen Nachbarschaft. Der Firma Wallyscar hat sie zwei Experten geschickt. Einer half beim Design eines neuen Modells, der andere berät bei der Optimierung von Arbeitsabläufen. Auf fast zehn Milliarden Euro taxiert die EU die von ihr, den europäischen Finanzinstituten und den Mitgliedstaaten seit 2011 bereitgestellten Mittel. "Unsere Hilfe allein kann Tunesiens Probleme nicht lösen", gibt EU-Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn zu. Aber sie mache einen Unterschied. Dennoch ist er diesmal nicht in erster Linie nach Tunis gekommen, um neues Geld mitzubringen.

"Dieses Land ist geteilt", sagt er. Auf der einen Seite gebt es einen privaten Sektor, der "lebendig, dynamisch, kreativ, international" sei und die Lage zwischen Afrika und Europa zu nutzen wisse. Auf der anderen Seite sieht Hahn den öffentlichen Sektor mit zu vielen Staatsbediensteten, Betrieben in Staatshand und "riesigen Haushaltsproblemen". Gehälter fressen die Hälfte des Staatshaushalts; die Jugendarbeitslosigkeit liegt immer noch bei fast 40 Prozent. Als die Regierung im Januar mit einem neuen Finanzgesetz Preiserhöhungen provozierte, gab es wütende Demonstrationen. 800 Menschen wurden festgenommen, ein Mensch starb.

Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn sitzt im Büro von Zied Ladhari, dem Minister für Entwicklung und internationale Zusammenarbeit. Der Minister ist vorbereitet. Er hat einen dicken Hefter mitgebracht. Darin sind, wie er sagt, alle von der EU finanzierten Projekte und mit der EU zusammen betriebenen Reformvorhaben aufgeführt. Es soll eine Fibel sein, mit der die tunesische Regierung sich künftig besser zurechtfinden soll im Dickicht der mannigfaltigen Zuwendungen. Die tunesische Verwaltung ist oft gar nicht in der Lage diese abzurufen. Die Verbesserung der "Absorptionskapazität" sei ihre oberste Priorität, versichert Ladhari. Ob er den Ordner mal mitnehmen könne, fragt Hahn. Der Minister ist überrumpelt. Abschlagen kann er es dem Kommissar aus Brüssel nicht.

Tausende junge Leute schlossen sich dem "Islamischen Staat" an

Wenig später gibt es eine kleine Zeremonie. Hahn und der Minister unterzeichnen die Vereinbarung über ein 20-Millionen-Euro-Unterstützungsprogramm für die Zivilgesellschaft. Das unterstreiche einmal mehr die "große Bedeutung der engen Beziehungen", sagt Ladhari. Beziehungen, die wichtig seien für Tunesien, "aber auch für die Europäische Union". Da hat er recht. Der EU geht es in Tunesien nicht nur selbstlos um einen Leuchtturm der Demokratie. Sie verfolgt handfeste Interessen.

2017 sind in Italien 8000 Tunesier aufgegriffen worden, die sich über den gefährlichen Seeweg auf die Suche nach einem besseren Leben gemacht hatten. Tausende junge Tunesier haben eine andere Route gewählt und schlossen sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" an. Den Europäern ist bewusst, welche Katastrophe ein tunesisches Scheitern bedeuten würde. "Die Menschen haben sich erhoben, weil sie ein besseres Leben wollten", sagt Kommissar Hahn. "Das kann Europa nicht ignorieren. Entweder exportieren wir Stabilität oder wir importieren Instabilität."

In Tunis lässt sich Hahn vor allem dort blicken, wo es nicht nur nach Stabilität aussieht, sondern geradezu nach Aufbruch. Er besucht zwei Zentren für Start-ups. Dort, wo smarte Jungunternehmer an der Revolutionierung der Arbeitsabläufe bei Flugzeugwartungen, neuen Lösungen fürs Energiesparen und verschiedenen Online-Plattformen tüfteln, schwärmt Hahn von Tunesien als Start-up-Nation und "Hub" für Afrika. Mit 25 Millionen Euro wolle die EU tausend Start-ups unterstützen. Es gehe um eine Zukunft für junge Tunesier im eigenen Land, sagt Hahn.

Die ersten freien Kommunalwahlen

Die EU hätte nun gerne einen klaren Fahrplan von der tunesischen Regierung, wann welche Reformen verabschiedet werden sollen, um Bürokratie und Staatswirtschaft einzudämmen. Hahn würde ihn, zusammen mit dem Hefter von Minister Ladhari, mit nach Brüssel nehmen. Und am Morgen denkt er eigentlich noch, dass Premierminister Youssef Chahed ihm diesen Fahrplan am Abend feierlich überreichen wird. "Es gibt keine Zeit zu verlieren, nicht einen Tag", sagt er über die anstehenden Reformvorhaben. Chahed freilich hat andere Sorgen - die ersten freien Kommunalwahlen im Mai, die Parlamentswahlen nächstes Jahr.

Den Amtssitz des Regierungschefs aber verlässt der Kommissar mit leeren Händen. Die feierliche Übergabe des Papiers fällt aus. Es sei allerdings schon von der Regierung gebilligt worden und werde "bald veröffentlicht", sagt Hahn nach dem Gespräch mit Chahed. Und das werde die Regierung dann unter Druck setzen zu liefern. "Positiven Druck", versteht sich.

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