Norbert Röttgen:"Bei jedem muss innerlich die Uhr laufen"

Norbert Röttgen gilt als kommender Mann der CDU. Ein Gespräch über das Verhältnis von Staat und Bürgern - und das Ende der großen Koalition.

Thorsten Denkler

sueddeutsche.de: Herr Röttgen, Sie sitzen seit bald 15 Jahren im Bundestag, seit 2005 ziehen sie als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an den Fäden der Macht. Haben Sie noch Zeit und Muße, die Perspektive des Berufspolitikers beiseitezuschieben und die Ihrer Wähler anzunehmen?

Norbert Röttgen CDU Angela Merkel, dpa

Norbert Röttgen gilt als ein kommender Mann der CDU.

(Foto: Foto: dpa)

Norbert Röttgen: Der Frage liegt ein bisschen ein Zerrbild des Politikers zugrunde ...

sueddeutsche.de: ... Oh, das war gar nicht so gemeint ...

Röttgen: ... also gut, dann sage ich es doch noch mal freundlicher: Viele haben von Politikern das Bild eines abgeschotteten Menschen, der die Dinge ganz anders sieht als alle anderen Bürger. Das stimmt nicht. Wir haben ein Vorleben als Nichtpolitiker, wir stecken wie jeder andere in vielfältigen privaten und familiären Bezügen. Außerdem bringt es unser Beruf mit sich, dass wir mit ganz vielen, ganz unterschiedlichen Menschen ins Gespräch kommen. Das empfinde ich übrigens als einen ganz entscheidenden Gewinn dieses Berufes.

sueddeutsche.de: Viele Bürger scheinen da einen anderen Eindruck zu haben. Die da in Berlin, heißt es. Oder: Auf uns hören die ja nicht.

Röttgen: Wir denken jeden Tag darüber nach, wie das, was wir besprechen und entscheiden, wirkt. Wie kommt unsere Sprache an? Sind unsere Argumente verständlich? Ich will damit nicht sagen, dass es uns immer gelingt, verständlich zu sein. Aber wir versuchen es.

sueddeutsche.de: Die meisten Menschen beschäftigen sich am Tag vielleicht fünf Minuten mit Politik. Sie lesen keine Parteiprogramme, überblättern die Politikseiten und sehen maximal "heute-journal" oder "Tagesschau". Ärgert es Sie, dass sich die Bürger so wenig für Ihre Arbeit interessieren?

Röttgen: Auch wenn ich es für sinnvoll halte: Ich kann niemandem sagen, er sei als guter Demokrat verpflichtet, täglich eine Qualitätszeitung zu lesen - und müsste dann noch eine halbe Stunde über Politik reflektieren. Politik muss sich nach den Menschen richten, nicht umgekehrt. Ich habe nicht den Anspruch, die Menschen zu erziehen. Politische Kommunikation darf sich eben nicht in der Vermittlung technischer Details erschöpfen. Ich kann davor nur warnen. Wer Politik so zu vermitteln versucht, der erreicht die Bürger nicht.

sueddeutsche.de: Was lässt sich in den fünf Minuten noch mitteilen, in denen die Bürger für Politik offen sind?

Röttgen: Grundgedanken politischen Handelns, unsere Maßstäbe. Wir können versuchen, Orientierung zu geben. So lässt sich in der Summe ein Bild von Politik erzeugen. Dazu gehört, selbst ein Bild von der eigenen Politik zu haben. Wer das nicht hat, der sagt nur scheinbar etwas. In Wirklichkeit erreicht er keinen, weil er keine Botschaft hat.

sueddeutsche.de: Von Wahl zu Wahl sinkt die Wahlbeteiligung. Die beiden Volksparteien CDU und SPD verlieren seit Jahren massiv an Mitgliedern. Sind das Zeichen für ein Scheitern von Politikvermittlung, wie sie Politiker und Parteien heute betreiben?

Röttgen: Es gibt dafür verschiedene Ursachen. Eine ist sicher die zunehmende Fragmentierung bis hin zur Atomisierung der Gesellschaft. Es gibt kaum noch große, alles überlagernde Themen, über die alle reden. So unterschiedlich die Menschen heute sind, so unterschiedlich sind die Themen, die sie diskutieren. Das macht es schwieriger, große gesellschaftliche Debatten überhaupt entstehen zu lassen.

sueddeutsche.de: In ihrem Buch "Deutschlands beste Jahre kommen noch" schreiben Sie, die Globalisierung dürfe nicht als Naturgesetz begriffen werden. Sie sei von Menschen verursacht und könne deshalb von Menschen gestaltet werden. Gilt das auch für die von Ihnen gerade beschriebene Individualisierung und Entsolidarisierung?

Röttgen: Positiv gesehen geht es dabei ja um Begriffe wie Liberalisierung, Emanzipation und Selbstbestimmung. Das sind gesellschaftlich gewollte Entwicklungen. Andererseits drängt die Individualisierung die gesellschaftlichen Bindungen und das Gemeinschaftsdenken zurück. Das ist ein Prozess, der alle modernen westlichen Gesellschaften begleitet.

sueddeutsche.de: Ist die Politik da einfach machtlos?

Röttgen: Nein. Sie kann und muss ihren Beitrag zur Gemeinschaftsbildung leisten. Ich finde hier übrigens den Verlauf der Debatte um Staatshilfen ganz aufschlussreich für die Entwicklung des Solidaritätsbegriffs in der Bevölkerung. Ich glaube, die Bevölkerung hat erkannt, dass die Alimentation einzelner Betroffener aus dem solidarischen Steueraufkommen kein Weg ist, Gerechtigkeit zu schaffen.

"Keiner darf durch den Rost fallen"

sueddeutsche.de: Wollen Sie sagen, der Hartz-IV-Empfänger soll auf staatliche Unterstützung verzichten, weil die Milliarden für die Banken und Opel irgendwie doch falsch waren?

Nobert Röttgen gilt als enger Vertrauter von Kanzlerin Angela Merkel. Foto: dpa

Nobert Röttgen gilt als enger Vertrauter von Kanzlerin Angela Merkel.

(Foto: Foto: dpa)

Röttgen: Natürlich nicht. Keiner darf durch den Rost fallen. Keiner darf zurückbleiben und liegenbleiben. Jeder hat Anspruch auf das zum Leben Nötige. Diese Prämisse stelle ich nicht in Frage.

sueddeutsche.de: Was dann?

Röttgen: Solidarität kann nicht bedeuten, dem Einzelnen eine dauerhafte Alimentation zu versprechen. Wir müssen stattdessen hilfebedürftigen Menschen helfen, in dieser Gesellschaft einen aktiven Part zu spielen. Sie müssen anerkannt werden in ihrer Würde als Individuum - und nicht nur als Empfänger von Solidarleistungen.

sueddeutsche.de: Stattdessen werden Steuersenkungen versprochen oder mehr Hartz-IV-Geld. Strukturen zu stärken, mit deren Hilfe neue Chancen erst ermöglicht werden, ist noch nicht wirklich in Mode gekommen.

Röttgen: Das ist der anspruchsvollere und schwierigere Weg. Aber er ist in jeder Hinsicht gerechter und entspricht mehr dem Menschen. Viele Hartz-IV-Empfänger sind in einer passiven Situation. Sie werden vom Staat im Grunde ein Stück weit aufgegeben. Wir müssen sie befähigen, selber wieder auf die Beine zu kommen. Ich bin überzeugt, dass das die meisten Hilfeempfänger genauso sehen.

sueddeutsche.de: Was wollen Sie ändern?

Röttgen: Der Staat muss den Menschen sagen: Wir tun alles, damit ihr euch auf eure Lebensleistung und auf eure Leistungsbereitschaft verlassen könnt. Wenn ihr leistungsbereit seid, kriegt ihr eine Chance. Wenn ihr ein Leben lang geleistet habt, bekommt ihr Anerkennung. Und denjenigen, die als Schwache starten, wollen wir helfen, dass sie leistungsfähig werden.

sueddeutsche.de: Die Abstiegsangst und die Verunsicherungsprozesse haben viel damit zu tun, dass die beiden großen Volksparteien weit davon entfernt sind, die 40-Prozent-Marke zu überspringen. Was also wollen Sie ganz konkret dagegen tun?

Röttgen: Das trifft für die SPD zu, für die CDU lasse ich das nicht gelten. Ich stimme Ihnen aber zu, dass der Umgang der Parteien mit den Verunsicherungen und Abstiegsängsten vieler Menschen entscheidend ist für ihr Überleben als Volksparteien. Die CDU ist mit ihrem Menschenbild und ihrem Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, die den Menschen, seine Leistungsbereitschaft, sein Fortkommen, aber auch sein Schutzbedürfnis in den Mittelpunkt der Wirtschaftsordnung stellt, prädestiniert dafür, diese Herausforderung zu bewältigen.

sueddeutsche.de: Finden Sie es nicht merkwürdig, dass die Medienkonsumenten den politischen Streit zwar besonders stark nachfragen, ihn aber nicht goutieren?

Röttgen: Konsens ist langweilig, wird aber vom Wähler gewollt. So ist das. Aber Demokratie ist Streit. Ich bin geradezu ein Anhänger des politischen Streits. Er ist spannend und ergiebig. Erst im politischen Streit entstehen die besten Ideen.

sueddeutsche.de: Wie muss ein Streit sein, von dem alle etwas haben?

Röttgen: Spannend, unterhaltsam, integrierend. Das ist immer dann gegeben, wenn er mit Leidenschaft geführt wird, wenn die Auseinandersetzung echt ist. Nach so einem Streit ist auch der Konsens spannend. Stattdessen streiten wir uns oftmals rituell, was abschreckt.

sueddeutsche.de: Gibt es die Themen nicht oder findet die Politik sie nicht?

Röttgen: Das letzte große kontroverse Thema, an das ich mich erinnere, war die Friedensbewegung in Verbindung mit der Nachrüstungsdebatte Anfang der achtziger Jahre. Davor, in der Aufbauphase der Bundesrepublik, gab es solche Themen häufiger, weil es noch um sehr grundsätzliche Weichenstellungen ging. Es gab auch klarere Feindbilder. Die haben wir heute nicht mehr. Politik ist komplizierter geworden. Manchmal weichen wir Grundsatzfragen auch aus. Auf der anderen Seite gibt es einen viel größeren medialen Hunger nach Streit als noch vor 20 Jahren.

sueddeutsche.de: Vielleicht fehlt der Politik auch einfach die Kraft, Visionen für die nächsten 20 Jahre zu entwickeln.

"Eine Gesellschaft unzähliger Besitzstandswahrer"

Drahtzieher der Macht: Norbert Röttgen (links) mit Friedrich Merz (rechts) und Andreas Schmidt. Foto: dpa

Drahtzieher der Macht: Norbert Röttgen (links) mit Friedrich Merz (rechts) und Andreas Schmidt.

(Foto: Foto: dpa)

Röttgen: Visionen entstehen auch aus der Erfahrung aktueller Konflikte. Nur aus der Finanzmarktkrise mit ihren immensen Schäden und Gefahren hat sich die konkrete Idee einer weltweiten Finanzmarkt- und Wirtschaftsordnung ergeben.

sueddeutsche.de: War vor diesem Hintergrund der Streit um Steuersenkungen in der Union ein visionärer Streit?

Röttgen: Das wäre eine Überhöhung.

sueddeutsche.de: War er dann nötig? Umfragen zeigen, die Menschen nehmen Ihnen die Steuerversprechen nicht ab, wollen Sie aber trotzdem wählen.

Röttgen: Für mich ist das ein Leistungsthema. Wenn wir sagen, wir müssen die Leistung des Einzelnen stärker würdigen, müssen wir verdeutlichen, wie wir das meinen. Wer etwas leistet, soll auch etwas davon haben.

sueddeutsche.de: Geht einer mit 100 Euro mehr noch motivierter zur Arbeit?

Röttgen: Die Steuerfrage hat ja zwei Seiten. Die eine ist, den Menschen durch die Entlastung neue Spielräume zu geben, ihre Leistung anzuerkennen und sie so tatsächlich auch zu motivieren. Die andere ist, dass wir unser hochkomplexes Steuerrecht für den Bürger wieder verstehbar machen, also es vereinfachen wollen. Das ist ein Freiheits- und Rechtsstaatsthema.

sueddeutsche.de: Warum sagt die Union, sie wolle Steuern senken und das Steuerrecht vereinfachen - und verschweigt den Wählern den Zeitpunkt dieser Aktion?

Röttgen: Weil wir nicht wissen, wie sich die Krise entwickeln wird. Unsere Antwort auf die Krise ist eine Wachstumsstrategie, die aus Investitionen, aus Konsolidierung und aus Entlastungsschritten besteht. Wir werden damit beginnen, wenn der Tiefpunkt der Krise überwunden ist und wenn es wieder Anzeichen für eine Erholung gibt.

sueddeutsche.de: Das Steuerrecht könnten Sie sofort vereinfachen.

Röttgen: So einfach ist das nicht. Eine grundlegende Steuerreform trifft auf eine Gesellschaft unzähliger Besitzstandswahrer. Die haben nicht das System als Ganzes im Auge, sondern ihre persönliche Facette der Betroffenheit. Die Frage ist, ob wir es schaffen, uns als Politik und als Gesellschaft über diese Summe von Einzelinteressen hinwegzusetzen.

sueddeutsche.de: Bei maximaler Vereinfachung stehen Sie im Zweifel vielen Millionen unzufriedenen Steuerbürgern gegenüber, die sich früher bei maximaler Einzelfallgerechtigkeit über die Komplexität des Steuerrechts beklagt haben.

Röttgen: Genau. Es nutzt wenig, wenn am Ende das neue System viel besser ist, aber alle unzufrieden sind.

sueddeutsche.de: Kompliziert ist auch die Wahlkampfsituation. Es passiert nicht so oft, dass eine Koalition massiv daran arbeitet, dass genau diese Konstellation nach der Wahl verschwindet. Andererseits ist es nicht vollkommen unwahrscheinlich, dass es nach der Wahl wieder zu einer großen Koalition kommt. Wie gehen Sie damit um?

Röttgen: Bei jedem, der an der großen Koalition teilnimmt, muss innerlich die Uhr laufen. Wir haben in den vier Jahren vieles gemacht, was eine kleine Koalition so nicht hätte leisten können. Nehmen Sie die Föderalismusreform, die Schuldenbremse oder die Rente mit 67. Und alles, was wir nicht geschafft haben, nehmen wir mit ins Gepäck für die nächste, dann kleine Koalition.

sueddeutsche.de: Und wenn wieder kein Weg an der großen Koalition vorbeiführt?

Röttgen: Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Die große Koalition muss unbedingt der Ausnahmefall in der Demokratie sein. Sie wird auch in den Kosten und im Preis zu hoch. Große Koalitionen haben immer große Mehrheiten. Das schaltet auf Dauer den Wettbewerb um die besten Ideen, um die richtige Richtung aus. Sie kann für eine kurze Frist sinnvoll oder sogar geboten sein. Aber sie wird zum Gift, wenn sie über Legislaturperioden hinweg Bestand haben soll.

sueddeutsche.de: Wie hat sich Ihr Verhältnis zur SPD in vier Jahren gemeinsamer Koalition verändert?

Röttgen: Die Basis für den wechselseitigen Respekt hat sich verbreitert durch die Erfahrung, gemeinsam Verantwortung übernommen zu haben. Zumindest bei denen, die in den vergangen vier Jahren sehr intensiv und vertraulich miteinander gerungen, aber auch Entscheidungen gefällt und durchgesetzt haben.

sueddeutsche.de: Sie haben die Sozialdemokraten am Ende doch nicht etwa liebgewonnen?

Röttgen: Sagen wir so: Der Wille, gegen den anderen die Wahl zu gewinnen, der ist, bei allem Respekt, auf beiden Seiten vollständig vorhanden.

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