SZ: Im Bundestag gibt es jetzt 622 Abgeordnete. Das sind wie viele zu viel?
Norbert Lammert: Es sind viele, nicht zu viele.
SZ: Noch größer sind nur die Parlamente Libyens und Nordkoreas.
Lammert: Das Europäische Parlament ist auch größer. Unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsfähigkeit des Parlaments könnte ich mir auch 100 oder 150 Abgeordnete weniger vorstellen. Aber mit einer geringeren Zahl von Abgeordneten wäre die Relation zwischen Abgeordneten und Wähler noch schlechter: Jeder Abgeordnete bei uns hat fast 150.000 Wählerinnen und Wähler zu betreuen, mehr als irgendwo sonst in Europa.
SZ: In den USA trifft ein Abgeordneter auf eine halbe Million Einwohner. Wenn man das zum Vergleich nimmt, hätte der Bundestag 150 Abgeordnete.
Lammert: Die Größe des Bundestages entspricht fast präzise der Größe des House of Commons in Großbritannien und der französischen Assemblée nationale. Das sind die Parlamente von zwei Ländern, die 20 Millionen weniger Einwohner haben als Deutschland.
SZ: Das deutsche Parlament ist groß, aber sein Ruf in Deutschland ist klein.
Lammert: Jedenfalls deutlich geringer als im Ausland. Es hängt sicher auch damit zusammen, dass die großen Richtungsentscheidungen in unserem Land getroffen sind. Aber das Parlament muss seine eigene Arbeitsweise gewiss verbessern: lebendige Debatten, weniger Reden zu Protokoll, energische Nutzung des Fragerechts an die Bundesregierung.
SZ: Von den Verfassungsorganen hat der Bundestag das schlechteste Ansehen. Der Ruf des Bundespräsidenten ist sehr gut, der des Bundesverfassungsgerichts hervorragend - der Ruf des Bundestags bescheiden. Auf der Liste der Politiker, die von den Wählern als wichtig angesehen werden, ist kaum je ein Bundestagspräsident aufgetaucht, Sie auch nicht.
Lammert: Das Letztere beruhigt mich ungemein. Dass ich an diesem Schönheitswettbewerb nicht teilnehmen muss, gehört zu den wenigen Vorzügen meines Amtes. Was im Übrigen die sonstigen Popularitätswerte angeht, teilen die Abgeordneten das Schicksal der Journalisten.
SZ: Wir sind kein Verfassungsorgan.
Lammert: Aber ähnlich wichtig für politische Meinungs- und Willensbildung. Ich glaube, es gibt nicht "den" Grund. Es gibt eine Summe von Einzelpunkten, die sich zu der von Ihnen beschriebenen Zurückhaltung verdichten.
SZ: Reden wir nicht herum. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, dass das Parlament nicht mehr das Zentrum dieser Demokratie ist. Sie hat sich immer stärker entparlamentarisiert: In der Regel ist es so, dass die Regierung nicht den Willen des Parlaments vollzieht, sondern es ist so, dass das Parlament den Willen der Regierung vollzieht.
Lammert: Und was ist daran neu? Das Verhältnis von Exekutive und Legislative im parlamentarischen Regierungssystem ist ein besonderes. Ich halte die Vermutung für voreilig, wir hätten es hier mit einem Degenerationseffekt zu tun. Der Begriff "Kanzlerdemokratie" wird, auch in der Wissenschaft, mit der Adenauer-Ära verbunden. Das macht deutlich, dass es von Anfang an eine starke Einflussnahme der Regierung auch auf parlamentarische Abläufe gegeben hat.
SZ: Heute werden vier von fünf Gesetzen nicht im Parlament vorbereitet, sondern von der Ministerialbürokratie. Gefällt ihnen dieses Verhältnis?
Lammert: Mich besorgt diese Zahlenrelation überhaupt nicht. Und das aus zwei Gründen. Erstens: Bei uns finden Wahlen in der Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler mindestens so sehr zur Entscheidung über eine Regierung statt wie zur Zusammensetzung eines neuen Parlaments. Das heißt, dieser Zusammenhang wird gar nicht als Problem, sondern als ausdrücklich gewollte Interaktion wahrgenommen.
Zweitens: In den Ländern, in denen der formale Anteil der Exekutive an der Vorbereitung von Gesetzgebungsakten nicht so ausgeprägt ist wie bei uns, findet eine informelle und weniger transparente Einflussnahme auf die Gesetzgebung statt. Wenn bei uns vier Fünftel der Gesetzesinitiativen von der Regierung eingebracht werden, dann weiß jeder, wer die verantwortet. Sie kommen dann nach parlamentarischer Behandlung in mal mehr und mal weniger modifizierter Form ins Gesetzesblatt. Und damit sind die Verantwortlichkeiten gleich an zwei Stellen eindeutig.
SZ: Das Verfassungsgericht hat in diesem Jahr dem Bundestag mit drei Urteilen gestärkt, ja ihn aufgefordert, seine Rechte wahrzunehmen, vor allem gegenüber der Regierung. Die Richter haben zwischen den Zeilen gesagt: Jetzt, Leute, stellt euch auf die Hinterbeine, wir können nicht ewig für euch den Gebrechlichkeitspfleger spielen. Warum hat das Parlament so wenig Selbstbewusstsein?
Lammert: Es hat sich in der deutschen Politik überhaupt und im Bundestag im Besonderen eine sehr moderate Streitkultur entwickelt, die ich im Ganzen für eine Errungenschaft halte. Der Bundestag zeigt nicht immer die Kraft, die er hat. Besonders ärgerlich finde ich die Art und Weise, wie wir das Fragerecht gegenüber der Bundesregierung verschenken. Das bleibt so weit hinter den parlamentarischen Möglichkeiten zurück, dass mich das persönlich frustriert. Dies erinnert mich an den Versuch, Gas zu geben bei gleichzeitig angezogener Handbremse.
SZ: Was tun Sie dagegen? Sie sind ja nicht der Grüß-August des Parlaments, sondern der zweithöchste Repräsentant des Staates.
Lammert: Gerade in der letzten Legislaturperiode habe ich gewiss ein Dutzend Mal bei der Bundesregierung darauf gedrungen, dass sie zuvor verweigerte oder verzögerte Auskünfte dann doch ordentlich erteilt hat.
SZ: Wir reden vom fehlenden Selbstbewusstsein des Parlaments. Vielleicht hat es damit zu tun, dass aus dem Artikel 38 Grundgesetz eine Lüge geworden ist. Es stimmt einfach nicht, dass die Abgeordneten "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind.
Lammert: Der Artikel markiert ein Spannungsverhältnis: Da ist die Weisungsungebundenheit des Mandats, aber auch die Erkennbarkeit politischer Entscheidungen. Dieses Spannungsverhältnis ist unverzichtbar und darf nicht zugunsten einer Weisungskompetenz der Fraktion aufgelöst werden. Es ist aber auch vernünftig, dass die Abgeordneten die in den Fraktionen jeweils getroffenen Entscheidungen anschließend gemeinsam im Bundestag vertreten. Es wäre doch verhängnisvoll, wenn jeder der 622 Kolleginnen und Kollegen den verzweifelten Ehrgeiz hätte, zu jeder Frage seine subjektive Meinung öffentlich spazieren führen zu wollen.
SZ: Sie malen die parlamentarische Anarchie an die Wand, wenn ich von parlamentarischer Freiheit rede.
Lammert: Das Parlament nimmt sich diese Freiheit schon, wenn es notwendig ist, wenn auch nicht so oft, wie Sie es gern hätten - und ich manchmal auch.
SZ: Von 15.500 Reden im Bundestag sind in der vergangenen Legislaturperiode 4429 nicht wirklich vorgetragen, sondern zu Protokoll gegeben worden. Jede vierte Rede war eine ungehaltene Rede. Soll das so weitergehen?
Lammert: Ich hoffe, dass das heilige Entsetzen, das dieser Hinweis ausgelöst hat, zu deutlichen Änderungen führt.
SZ: Sollten die neuen Vorschriften, die es ausdrücklich erlauben, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden, nicht einfach wieder abgeschafft werden?
Lammert: Es ist in Ordnung, wenn rechtlich diese Möglichkeit besteht. Es kann aber nicht toleriert werden, dass aus einer Ausnahme die Regel wird. Es könnte sich ja eines Tages vor dem Verfassungsgericht herausstellen, dass es sich um einen Verfahrensfehler handelt, wenn ein Gesetz auf dieser Basis, also unter Verstoß gegen das Öffentlichkeitsgebot, zustande gekommen ist. Ich erwarte, dass von der Möglichkeit, Reden nur zu Protokoll zu geben, künftig viel zurückhaltender Gebrauch gemacht wird.
SZ: Die Praxis, Gesetzentwürfe von Anwaltskanzleien erarbeiten zu lassen, ist ein Armutszeugnis.
Lammert: Bei der Vorbereitung von Gesetzestexten Sachverstand heranzuziehen, ist nicht zu beanstanden, die Auslagerung an externe Einrichtungen dagegen schon. Ich habe aber den Eindruck, dass die Sensibilität insbesondere auf Seiten des Parlaments gestiegen ist. Der Bundestag hat im Übrigen bei der raschen Ausarbeitung des Begleitgesetzes zum Lissabon-Vertrag im Sommer dieses Jahres gezeigt, was er selbst kann, ohne Federführung eines Ministeriums.
SZ: Da hat er binnen weniger Wochen in einer komplizierten Materie einen guten Gesetzentwurf hingekriegt. Umso weniger ist verständlich, dass man ein verfassungsgemäßes Wahlrecht vor der Bundestagswahl nicht hingebracht hat.
Lammert: Da bin ich nicht aufklärungsbedürftig. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir das auf der Basis des rundum plausiblen Karlsruher Urteils so schnell wie möglich angepackt. Das wäre damals, 2008, nicht komplizierter gewesen als es heute ist. Aber je näher der Wahltermin rückte, umso mehr überlagerten Spekulationen über die Effekte einer Veränderung für die Mandatsverteilung jedes nüchtern-neutrale Abwägen.
SZ: Das Bundesverfassungsgericht gibt alle Möglichkeiten zur Änderungen - bis hin zur Umstellung des Wahlrechts auf ein reines Mehrheitswahlrecht.
Lammert: Dazu sehe ich weder Absichten noch Mehrheiten. Ich will, dass die notwendigen Korrekturen gemacht und zugleich die Verfahren der Wahlzulassung neuer Parteien reformiert werden. Und ich würde gern die Wahlperiode des Bundestages auf fünf Jahre verlängern.
SZ: Und zum Ausgleich plebiszitäre Elemente auf Bundesebene einführen?
Lammert: Nein, ich bin nicht bereit, für eine Verlängerung der Wahlperiode den Preis einer plebiszitären Öffnung des Grundgesetzes zu zahlen.
SZ: Der Bürger soll nur noch alle fünf Jahre gefragt werden und dazwischen nichts zu sagen haben?
Lammert: Die Erfahrungen, die wir mit Plebisziten auf kommunaler und Länderebene gemacht haben, vermitteln mir nicht den Eindruck, dass es einen besonderen Bedarf bürgerschaftlicher Mitwirkung gibt. Die meisten Plebiszite scheitern doch an mangelnder Beteiligung.
SZ: Das ist doch kein Kriterium, um erfolgreiche Plebiszite zu diskreditieren. Die Beteiligung an Wahlen ist ja auch nicht eben berauschend. Ist die mangelnde Beteiligung der Bürger ein Argument dafür, sie noch weniger zu beteiligen?
Lammert: Das Grundgesetz kennt den Volksentscheid bisher nur für die Neugliederung der Länder. Das ist eine Denkmalschutzgarantie für die 16 in Größe und Leistungsfähigkeit höchst unterschiedlichen Bundesländer. Die notwendige Fusion von Berlin und Brandenburg ist durch Volksabstimmung abgelehnt worden. Das stimmt mich skeptisch.
SZ: Das Symposium zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas trug das Motto "Auslaufmodell Demokratie".
Lammert: Das fügt sich in den Trend der medialen Zuspitzung von allem und jedem. Ohne Katastrophenverdacht lassen sich stabile Sachverhalte gar nicht mehr ins öffentliche Bewusstsein heben. Die Demokratie ist kein Auslaufmodell, eher ein Exportartikel - und gerade die deutsche Demokratie gilt Reformstaaten inzwischen als Modell.