Norbert Blüm über Billigarbeit:"Ohne Gewinne für die Ausbeuter endet der Rausch"

Victims' mass funeral

Die Trauer ist groß: Diese Frauen besuchen die Beerdigung für die Opfer des Brandes in der Textilfabrik in Dhaka.

(Foto: dpa)

Norbert Blüm kämpft seit Jahren gegen die Ausbeute von Arbeitern in ärmeren Ländern, die für Europa produzieren. Im Gespräch warnt er vor ständigen Kostensenkungen, fordert Verantwortung der Konsumenten ein - und erzählt von bizarren Erfahrungen mit Kontrolleuren.

Interview von Oliver Das Gupta

Am Wochenende hat eine Bekleidungsfabrik in Bangladesch gebrannt. Mehr als 100 Menschen kamen ums Leben. Die Arbeiter wurden, um Platz zu sparen, so eng wie möglich zusammengepfercht. Tausende gingen danach auf die Straße, um gegen die Arbeitsbedingungen zu protestieren. Der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) engagiert sich gegen Kinderarbeit und schlechte Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern. Er ist selbst nach Bangladesch und andere neuralgische Billiglohnländer gereist und berichtete auch für die Vereinten Nationen darüber.

SZ.de: Herr Blüm, Sie haben sich vor wenigen Jahren in Bangladesch Textilfabriken angesehen. Welchen Eindruck hatten Sie von den Arbeitsbedingungen und Sicherheitsstandards?

Norbert Blüm: Die Menschen arbeiten dort für Hungerlöhne. Entsprechend ist es um die Sicherheit bestellt. Alles muss möglichst wenig kosten. Kostensenkungen bedeuten: Der Billigste gewinnt. So geht die Schraube nach unten. Mein besonderes Erlebnis in Bangladesch hatte ich mit einem deutschen Handelsvertreter. Der lief mir eines Abends über den Weg und erzählte mir stolz, dass seine Firma jetzt die Produktion nach China verlegt. Denn dort arbeiteten die Textilarbeiterinnen noch billiger.

Wie hoch ist der Lohn einer Textilarbeiterin in Bangladesch?

Ein Dollar - pro Tag! Und in China zahlen sie demnach weniger. Dieses Beispiel zeigt die ganze Absurdität. Wenn man den Wahnsinn der Kostensenkung weiterdenkt, gibt es bald nur noch sehr wenige Menschen, die das Geld haben, Produkte zu kaufen.

Welche Wege gibt es, solche Entwicklungen zu verhindern und Arbeitsbedingungen und Löhne zu verbessern?

Ich sehe zwei Möglichkeiten: Erstens, die Kunden sind Könige. Sie müssen keine Produkte kaufen, die mit Ausbeutung verbunden sind. Es gibt inzwischen viele Waren, die unter fairen Bedingungen hergestellt wurden. Es kann auch helfen, dass sich Konsumenten an die Verkäufer wenden und fragen, woher die Produkte kommen und unter welchen Bedingungen sie entstanden sind. Wenn die Ketten, die in deutschen Fußgängerzonen ihre T-Shirts, Jacken und Jeans zu Billigpreisen anbieten, offen damit konfrontiert werden, hat das Folgen.

Wie stellen Sie sich das konkret vor: Kann ein einzelner Mensch Textilhersteller XY dazu bringen, etwas an den Bedingungen in Fernost zu verbessern?

Wenn derjenige alleine bleibt, nicht. Aber wenn es mehrere sind, die sich über den Billigwahnsinn beschweren, zeigt das Wirkung. Denn wenn die Ausbeuter keine Gewinne mehr machen, wird der Rausch schnell beendet sein. Tausend Mückenstiche setzen einen Elefanten in Bewegung.

Und wie lautet der zweite Weg, etwas zu ändern?

Internationale Organisationen. Aber sie funktionieren nicht. Vor allem die ILO ...

... die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen ...

... die geheimste Weltorganisation, die ich kenne. Alle reden von der Weltbank und dem IWF, den Instrumenten der Finanzwirtschaft, niemand redet von der ILO. Tausende arbeiten dort, ihre Hauptbeschäftigung sind Konferenzen. Und sie bedrucken Papier, das ist ihre Spezialität. In einer ihrer letzten Broschüren stand der Satz, das Ende der Kinderarbeit sei "zum Greifen nah".

"Ich bin auf 180"

Diskussionsveranstaltung  - Rente mit 67

Amtierte 16 Jahre lang als Bundesarbeitsminister: Norbert Blüm, Christdemokrat und Gerwerkschaftler

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Das klingt eher nach einem frommen Wunsch als nach der Realität.

Das kann nur einer schreiben, der auf dem Mond recherchiert hat! In Afrika sind Kindersoldaten nach wie vor im Einsatz, die Kinderprostitution blüht, in vielen Ländern müssen schon kleine Kinder härteste Arbeiten verrichten.

Sie haben als Bundesarbeitsminister 1997 geholfen, eine Konvention gegen Kinderarbeit durchzusetzen. Fast alle Staaten haben das Papier inzwischen unterschrieben - warum ändert sich so wenig in der Praxis?

Auch, weil die ILO wirkungslos ist. Viermal bin ich für die UN-Organisation durch neuralgische Regionen gereist und war erschüttert. In Marokko hat mir der Arbeitsminister stolz gezeigt, dass sein Land die Konvention unterschrieben hätte. Ich habe ihn gefragt, wie viele Inspektoren er hat, da antwortete er: drei. Drei Inspektoren! Das reicht nicht einmal für die Töpferwarenindustrie einer Stadt wie Fez. Die ILO verteilt in Marokko Kinderhandschuhe in Schmiedewerkstätten. Wie kann das sein, wenn Kinderarbeit verboten ist?

War das ein Einzelfall oder haben Sie Ähnliches in anderen Ländern erlebt?

Klar gibt es diese Fälle. In Kolumbien sagte die ILO-Vertreterin in einem Vortrag, die Kinderarbeit sei zuletzt von 32,3 auf 29,7 Prozent zurückgegangen. Ich hab die Veranstaltung abgebrochen, sie war beleidigt. Ich war wenige Stunden zuvor auf dem Großmarkt von Bogotá. Da weiß kein Mensch, wie viele Kinder dort arbeiten. Dort war die Referentin noch nie, aber sie behauptete, aufs Komma genau die Kinderarbeit beziffern zu können. In Sankt Petersburg habe ich ein Projekt gegen Kinderprostitution besucht. Vor dem Ortstermin musste sich der dortige ILO-Vertreter erstmal beim Fahrer erkundigen, wo die betreffende Straße ist - was mich auf den verwegenen Gedanken brachte, dass er noch nie da war.

Sie klingen jetzt ziemlich erbost, Herr Blüm.

Ich bin auf 180, weil wir keine Konventionen brauchen, die niemand ernst nimmt. Dabei gibt es in der ILO Verfahren, um Staaten zu mahnen. Mir ist kein Fall bekannt, in dem die ILO diese relativ stumpfe Waffe einmal eingesetzt hat.

Ist denn das Anprangern solcher Missstände nicht auch Aufgabe der Politik? Immerhin stellt Ihre CDU gerade die Kanzlerin und die Bundesarbeitsministerin.

Die Politik hat gerade alle Hände voll zu tun, den Raubtierkapitalismus zu bändigen und die durch ihn hervorgerufenen Schäden zu heilen. Natürlich soll sie sich auch um die Themen Kinderarbeit und Ausbeutung kümmern. Aber Regierungen alleine schaffen es nicht, die Zivilgesellschaft ist ebenso gefordert.

Wen meinen Sie genau?

Allen voran die Kirchen und Gewerkschaften. DGB-Chef Michael Sommer sollte langsam aus dem Schlafwagen der ILO kommen und dem Laden Dampf machen. Denn immerhin sind Gewerkschaften zu einem Drittel neben Staat und Arbeitgebern an der Aufsicht über die ILO beteiligt. Und jeder, der in München oder Berlin oder Köln in ein Geschäft geht und ein T-Shirt, einen Teppich oder einen Grabstein kauft, sollte sich erkundigen, unter welchen Bedingungen die Ware produziert wurde. Wir tragen alle ein Stückchen Verantwortung.

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