Süddeutsche Zeitung

Nigeria:Terrormiliz Boko Haram missbraucht Kinder als Attentäter

  • Die islamistische Terrormiliz Boko Haram missbraucht offenbar immer mehr Kinder für Selbstmordanschläge.
  • 44 Minderjährige haben sich 2015 in Nigeria und den Nachbarländern Kamerun, Tschad und Niger in die Luft gesprengt, teilte das Kinderhilfswerk Unicef mit.
  • Vor knapp zwei Jahren haben Boko Haram-Kämpfer in Nigeria 276 Schülerinnen entführt. Einige von ihnen könnten für die Anschläge instrumentalisiert worden sein.

Von Hanna Spanhel

Sie werden bedroht, manipuliert oder mit Geld angelockt: Kinder, die sich in Nigeria und den angrenzenden Staaten selbst in die Luft sprengen. Junge Mädchen vor allem, oft nicht älter als acht Jahre - und meist wohl instrumentalisiert von Kämpfern der islamistischen Terrormiliz Boko Haram.

Zehnmal so viele Selbstmordanschläge wie noch 2014 wurden im vergangenen Jahr im Norden Nigerias und in angrenzenden Regionen von Kindern und Jugendlichen ausgeführt, zeigt ein aktueller Bericht des Kinderhilfswerks Unicef: 44 Attentate waren das 2015 in Nigeria, in Kamerun, dem Tschad und Niger - ein Jahr zuvor hatte es vier solcher Anschläge gegeben. Damit sind Minderjährige inzwischen an einem Fünftel der Selbstmordanschläge in dieser Region beteiligt. Und: Drei Viertel dieser Attentate seien von Mädchen ausgeführt worden, heißt es in dem Bericht weiter. Unicef will mit dem Report auch dem Schicksal der mehr als 200 Mädchen nachgehen, die vor knapp zwei Jahren von der Terrororganisation Boko Haram im Norden Nigerias entführt wurden. Denn: Von den meisten fehlt noch immer jede Spur.

"Diese Kinder sind Opfer, nicht Täter"

Dass einige der damals entführten Mädchen offensichtlich von Boko Haram zu Selbstmordanschlägen gezwungen werden, legt ein Fall nahe, der vor einigen Wochen Schlagzeilen machte. Eine 15-Jährige stellte sich Ende März im Norden Kameruns der Polizei - um den Körper trug sie einen Sprengstoffgürtel. Sie sei als Selbstmordattentäterin ausgewählt worden, sagte sie damals - gezündet hat sie den Sprengstoff nicht. Boko Haram-Kämpfer hätten sie damals, vor zwei Jahren, aus Chibok entführt, sagte sie der Polizei.

"Der Einsatz von Kindern, vor allem von Mädchen, wurde zu einem prägenden und alarmierenden Merkmal des Konflikts", heißt es in dem Unicef-Bericht. Kinder zu täuschen und sie zu zwingen, tödliche Anschläge auszuführen - das sei einer der schlimmsten Aspekte der Gewalt in Nigeria und in den angrenzenden Ländern, sagte der Unicef-Direktor für West- und Zentralafrika, Manuel Fontaine. Die Kinder seien keine freiwilligen Kämpfer, das müsse klar sein: "Diese Kinder sind Opfer, nicht Täter."

Kinder sind leichter zu manipulieren - und zu indoktrinieren

Dass die Terrormiliz immer häufiger Kinder instrumentalisiert und für Anschläge missbraucht, habe zum Teil ganz praktische Gründe, sagt Ninja Charbonneau, Sprecherin von UNICEF Deutschland. "Kinder sind leichter zu manipulieren und zu indoktrinieren. Sie werden unter Druck gesetzt, mit Geld gelockt oder die Familien werden bedroht", sagt Charbonneau. Dazu kommt: Viele der Kinder, die für die Anschläge eingesetzt werden, seien gerade einmal acht Jahre alt - "die können gar nicht begreifen, wofür sie da instrumentalisiert werden."

Der Einsatz von Kindern, die zu Gewaltanschlägen gezwungen werden, sorge insgesamt für Angst und Misstrauen in der Gesellschaft, sagt Ninja Charbonneau. "Nicht mal vor Kinder kann man sich noch sicher fühlen, das ist das Gefühl dort", sagt die Sprecherin. Darunter würden auch diejenigen leiden, die der Gefangenschaft und sexuellen Gewalt durch Boko Haram-Kämpfer entkommen konnten: "Als ich zurückkam ins Camp, hatte ich nichts", erzählt ein 17-jähriges Mädchen in dem Bericht. "Aber ich wurde weggeschickt. Sie sagten: Du bist eine Boko-Haram-Frau, hau ab."

Die sunnitischen Fundamentalisten der Boko Haram kämpfen im Nordosten Nigerias und den angrenzenden Gebieten der Nachbarländer für die Errichtung eines sogenannten Gottesstaats. Bei Angriffen und Anschlägen der Terrormiliz wurden in den vergangenen Jahren mindestens 14 000 Menschen getötet. Mehr als 2,3 Millionen Menschen sind seit Mai 2013 auf der Flucht vor der Gewalt und dem Terror in der Region - mehr als die Hälfte davon, etwa 1,3 Millionen, sind nach Unicef-Angaben Kinder.

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