Am schlimmsten ist die Stille, sagt Abiazie. Wenn es still ist, fängt er an nachzudenken. Über das, was er "den Vorfall" nennt. Über die drei Tage in einer stickigen Gefängniszelle, über seine Familie in Nigeria, und über den Gerichtstermin, von dem er nicht weiß, wann dieser kommt und ob Abiazie danach in Deutschland bleiben darf. Wenn er von den zwei Jahren seit seiner Flucht erzählt, ist seine Stimme monoton und so leise, dass man ihn mit dem Radio im Hintergrund kaum versteht. Seine leicht milchigen Augen schauen aus dem Fenster, nicht zu seinem Gegenüber. Ifeanyi Abiazie ist ein großer Mann, 35 Jahre alt, jemand, der viel vorhatte mit seinem Leben. Jetzt sitzt er in einem bayerischen Café und sieht zu, wie sein Kaffee kalt wird. Sein Leben in Deutschland besteht aus Stille und Warten.
Viele Nigerianer kommen nach Deutschland, auf der Suche nach einem besseren Leben oder einfach nur nach Sicherheit. Sie sind die viertgrößte Gruppe der Geflüchteten hier, nach Syrern, Irakern und Iranern. Die meisten von ihnen haben keine Chance, Asyl zu bekommen. Die Schutzquote schwankt um die 15 Prozent. Denn die deutschen Behörden gehen davon aus, dass die meisten Nigerianer innerhalb ihres Landes Schutz finden könnten.
Doch das Land kämpft mit einer ganzen Reihe von Konflikten, mit denen die Bundesregierung sich beschäftigen muss, wenn sie Fluchtursachen aufarbeiten will. Jedes dieser Probleme hat schon für sich das Potenzial, die staatlichen Strukturen einstürzen zu lassen. Vor den Präsidentschaftswahlen an diesem Samstag haben sich die Konflikte noch verschärft: Die Zahl der Terroranschläge und die Gewalt sind gestiegen. Deshalb fliehen so viele Nigerianer nach Europa.
Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wäre es trotzdem lieber, wenn Ifeanyi Abiazie im Südwesten Nigerias geblieben wäre. Er sei in einem anderen Landesteil sicher. Doch im Süden kämpfen Rebellengruppen und Seperatisten gegen das nigerianische Militär. Und im Norden gilt neben dem weltlichen Recht das islamische, die Scharia. Dort wäre Abiazie vielleicht gesteinigt worden - wegen des "Vorfalls".
Es passierte am Valentinstag 2016. Abiazie verbrachte ihn mit einem "männlichen Freund", wie er ihn nennt. In Nigeria ist Homosexualität strafbar. Das Land ist extrem konservativ, sogar Küsse zwischen Männern sind verboten. "Wenn du mit jemandem ausgehen willst, musst du zahlen", erklärt Abiazie. Er kaufte seinem Date Jeans, Sneaker und ein Handy, erzählt er. Abends gingen sie in den Park, tranken und unterhielten sich. Abiazie war gut gelaunt und wurde unvorsichtig. Er küsste seinen Freund.
"Eine Gruppe Männer sah uns. Sie waren in einer Gang. Diese Mafiosi trifft man in der Stadt öfter. Sie bedrohen dich mit ihren Pistolen, bis du ihnen alles gibst, was du bei dir hast", erzählt Abiazie. "Sie fingen an uns zu schlagen, wollten uns töten. Eine Polizeistreife rettete uns."
Aber die Polizisten nahmen nicht die Gangmitglieder mit. Sie verhafteten Abiazie und seine Begleitung. Den Polizisten erzählte der "Freund", Abiazie habe ihn zu den Küssen gezwungen. Er kam frei, Abiazie blieb in der Zelle zurück. Auf Homosexualität stehen bis zu 14 Jahre Gefängnis.
"Die politischen Ämter dienen der Bereicherung der Herrschenden"
In den Norden kann Abiazie nicht nur deshalb nicht fliehen, weil er schwul ist. Für christliche Geflüchtete wie ihn ist es dort besonders gefährlich, denn im Norden attackiert Boko Haram noch immer Zivilisten. 2014 galt die Gruppe als tödlichste Terrororganisation der Welt. Ein Jahr später, im Dezember 2015, verkündete Präsident Muhammadu Buhari: "Boko Haram ist technisch besiegt." Für eine Weile sah es so aus, als sei das wahr.
Denn Boko Haram hatte sich zurückgezogen, an die Grenze zu Niger, Tschad und Kamerun. Besiegt sind die Terroristen aber noch nicht. Seit letztem Herbst steigt die Zahl der Toten und der Anschläge wieder, auch das Militär greift die Gruppe wieder offen an. Präsident Buhari hatte zu seinem Antritt versprochen, Boko Haram zu besiegen. Dass die Terroristen jetzt wieder da sind, schadet seiner Wiederwahl-Kampagne.
Deshalb ist es wahrscheinlich, dass einige von Buharis politischen Gegnern Boko Haram mit Geld unterstützen, erklärt der Politologe Jan Sändig. Er forscht an der Universität Tübingen über die Terroristen. "Einige Politiker versuchen, die Gruppe zu instrumentalisieren." Verurteilt wurde noch niemand, Korruption ist allgegenwärtig: "Die politischen Ämter dienen der Bereicherung der Herrschenden", sagt Sändig.
Auch Ifeanyi Abiazie setzt keine Hoffnung in die Wahlen: "Die Alten kontrollieren alles und wollen die Jungen nicht mitmachen lassen. Präsident Buhari ist 76 Jahre alt, im Rentenalter, jemand, der monatelang seine Arbeit nicht machen konnte, weil er krank war. So jemand will das Land regieren. Für mich hat er nichts zu bieten."
Während die Eliten extrem reich sind, hungert der Großteil der Bevölkerung. Fast die Hälfte der Nigerianer lebt von weniger als 1,90 Dollar am Tag, schätzt die Weltbank. Und das Problem wächst mit der Bevölkerung: In den vergangenen 50 Jahren hat sie sich vervierfacht. 200 Millionen Einwohner hat Nigeria. Bis 2050 könnte es das Land mit der drittgrößten Bevölkerung sein, nach Indien und China.
Abiazie merkte das früher in seinem Alltag, wenn er sich durch die Menschenmassen auf den Straßen von Lagos drängen musste, der größten Stadt Nigerias. Hier hatte er sein Leben aufgebaut. "Ich denke nicht darüber nach, was meine Regierung für mich tun kann. Ich frage mich, was ich selbst für meine Zukunft tun kann", sagt Abiazie. Sein Mantra klingt ein wenig wie eine nigerianische Version von Kennedys berühmten Zitat, sein Optimismus erinnert an den Amerikanischen Traum: "Du kannst alles erreichen, wenn du selbst daran arbeitest", glaubt Abiazie.
Er studierte Wirtschaft und baute einen Laden für Elektrogeräte auf, mit Geld, das er sich von der Bank lieh. Nach fünf Jahren hatte er ein laufendes Geschäft und fünf Mitarbeiter unter sich. "Mir ging es gut", sagt er. Dann kam der Valentinstag.
Drei Tage saß Abiazie in der Zelle, erzählt er. Schließlich ließen die Polizisten ihn laufen, für ein Bestechungsgeld von umgerechnet 1200 Euro. Als er zu seinem Laden kam, fand er ihn zerstört vor. Die Gang hatte seine Abwesenheit genutzt, die Scheiben eingeschlagen und seine Waren gestohlen.
"Ich wusste nicht, wo ich hin sollte", erzählt Abiazie heute. "Mein Geschäft war ruiniert, ich hatte noch immer Schulden bei der Bank. Mein Anwalt sagte mir, dass die Polizei mich jederzeit wieder verhaften und anklagen könnte." Abiazie wollte zu seiner Familie in den Osten fliehen. Doch die hatten bereits von dem Vorfall gehört und einen Brief des örtlichen Herrschers bekommen. In Nigeria gibt es noch eine Reihe von Monarchen, die zwar offiziell keine politische Macht mehr haben, regional aber trotzdem oft einflussreich sind. In dem Brief stand, dass seine Familie Abiazie nicht aufnehmen durfte, sonst sei auch ihr Leben in Gefahr. Er versteckte sich bei einem Freund, für acht Monate. Nur nachts traute er sich auf die Straße. Abiazie musste weg. Aber wohin?
Fluchtursachen zu bekämpfen, wird schwierig
Eine Flucht ins Ausland ist für die meisten Nigerianer zu teuer. Etwa zwei Millionen sind deshalb innerhalb des Landes auf der Flucht, schätzen die Vereinten Nationen. Doch in Nigeria überlagern sich die Konflikte: muslimischer Norden gegen christlichen Süden, Arm gegen Reich, Polizisten gegen Gangs, das Militär gegen Boko Haram, Seperatisten und andere Rebellengruppen, und auf dem Land gehen sesshafte Bauern und nomadische Hirten mit Macheten und Gewehren aufeinander los, weil sie sich um Weideflächen streiten - eine Auseinandersetzung, durch die schon mehr Menschen getötet wurden als durch die Terroristen. Wer hier Fluchtursachen bekämpfen möchte, der hat eine schwere Aufgabe vor sich.
Deutschland hat immer wieder betont, eben das versuchen zu wollen. Als die Kanzlerin im August 2018 Nigeria besuchte, waren die Erwartungen groß. Nigeria hofft auf eine engere Zusammenarbeit, Deutschland darauf, viele Geflüchtete problemlos zurückschicken zu können. Das Thema stand zwar nicht auf der offiziellen Tagesordnung. Angesprochen wurde es doch. "Wir sind gegen illegale Migration", sagte Nigerias Präsident Buhari. Konkrete Pläne für eine Rückführung vereinbarten Merkel und Buhari aber nicht.
"Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Nigeria konzentriert sich auf die nachhaltige Wirtschaftsentwicklung", heißt es auf der Seite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 57,6 Millionen Euro gab Deutschland dafür 2016 aus.
Der Politikwissenschaftler Sändig ist pessimistisch. "Um Nigeria zu helfen, müsste man bei ganz grundlegenden Dingen anfangen, wie dem Aufbau stabiler staatlicher Strukturen", erklärt Sändig. "Das sind sehr langfristige Unterfangen."
Auch das Militär zu unterstützen ist heikel: "Selbst die USA sind davor zurückgeschreckt, Kampfhubschrauber zu schicken, weil dem nigerianischen Militär so brutale Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden", so Sändig. Gar nichts tun könne aber auch keine Lösung sein. Die beste Chance böten kleine, lokale Entwicklungsprojekte.
Sichere neue Heimat? "Plötzlich brannte es"
Ifeanyi Abiazie schaffte es über einen Umweg nach Deutschland: Eine katholische Gruppe wollte nach Italien, für eine Konferenz, und konnte ihn mitnehmen.
Von Rom aus buchte er einen Zug nach München. Er lebt nun in einer Unterkunft in Nußdorf am Ilm, einem kleinen Ort wenige Gehminuten von der österreichischen Grenze entfernt. Im März wurden er und die anderen Bewohner mitten in der Nacht geweckt. "Es war kurz vor Mitternacht. Plötzlich brannte es", erinnert sich Abiazie. Zum Glück wurde niemand verletzt. Das Feuer hätte sich schnell ausbreiten können, stellte ein Richter später fest. Die Polizei fand zwei mit Benzin gefüllte Flaschen und ein Hakenkreuz an der Außenwand, das jemand Tage zuvor mit schwarzer Farbe gesprüht hatte. Nur zwei Wochen später gab es wieder einen Brandanschlag.
"Ich kann mir nicht erklären, wer uns angreifen wollte", erzählt Abiazie. Was er nicht wusste: Die beiden Täter kehrten nach dem zweiten Anschlag zurück, mit dem Einsatzwagen der Freiwilligen Feuerwehr, um den Brand zu löschen, den sie selbst gelegt hatten. Die Polizei konnte die beiden jungen Männer später festnehmen. Auf dem Computer des einen fand die Polizei Nazi- und Hitlerbilder mit verharmlosenden Texten. Sie wurden zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.
Nach den Anschlägen konnte Abiazie noch weniger schlafen als davor. Er nahm Antidepressiva, doch die halfen kaum. Im Mai kam der zweite Tiefpunkt: Das Bamf glaubt Abiazie nicht. Er sei in Nigeria sicher. Gegen die Entscheidung könne er aber klagen. Also tat er das.
Das ist jetzt ein Jahr her. Seitdem wartet er. Auf den Gerichtstermin. Darauf, dass seine Heimat Nigeria wieder zu einem Land wird, in dem er sicher leben kann. Oder darauf, dass zumindest Deutschland zu seiner neuen Heimat wird. "Ich verstehe, wenn Deutschland wenig für Nigeria tun kann", sagt Abiazie. Aber sein Leben als Flüchtling hier ein wenig sicherer machen, das könnte Deutschland schon, findet er.