Afrika zu verstehen, scheint wichtiger denn je zu sein. Tatsächlich glauben viele Menschen aber immer noch zu oft, unser südlicher Nachbarkontinent ginge uns nichts an. Ausreden dafür gibt es viele: Wirtschaftlich uninteressant, arm, ungebildet, kompliziert, konfliktträchtig, instabil, nicht entwickelt, gewalttätig, so lauten einige der gängigen Schlagworte. Einschätzungen, die auch nicht völlig von der Hand zu weisen sind. Zwar ist Afrika nicht gleich Afrika und Ghana nicht Sambia, Kenia nicht Malawi. Aber viele der größten derzeitigen Probleme kulminieren dort und machen Afrika insgesamt zum „Sorgenkind“ – auch dieser Begriff ist schon entlarvend – der Weltgemeinschaft.
Bei Lichte betrachtet kann sich Europa diese Ignoranz und dieses Desinteresse aber nicht (mehr) leisten. Abgesehen vom derzeit nicht sehr populären Gedanken der Solidarität mit ärmeren Ländern ist oder wird Afrika für Mitteleuropa in vielerlei Hinsicht relevant. Und das gilt längst nicht nur beim Thema Flüchtlingsströme. Sondern in Afrika liegen auch riesige Vorräte an Bodenschätzen, inklusive Lithiums und Seltener Erden, die für den Wechsel in eine nachhaltige Welt unverzichtbar sind. Ob Batterien oder Handys – ohne geht es nicht. Dazu kommt: Afrika hat zwar die am schnellsten wachsende Bevölkerung der Welt, aber auch die jüngste. Im Jahr 2050 ist jeder vierte Mensch ein Afrikaner. Entsprechend ist dort eine große Dynamik zu erwarten; dazu bietet der Kontinent ein gigantisches Reservoir an Arbeits- und Fachkräften, die dem alternden Europa fehlen.

Es gibt also mannigfaltige Gründe, sich schon im eigenen Interesse intensiver mit Afrika und dessen Vielschichtigkeit zu beschäftigen. Genau das ist das Anliegen Issio Ehrichs. Dafür steigt der Berliner Journalist und Fotograf tief ein in die derzeitige Lage und Befindlichkeit Afrikas, wirtschaftlich wie politisch, und wirft dabei einen besonderen Blick auf die Sahelzone. Sie umfasst einen Streifen Land, der sich vom Senegal im Westen bis Eritrea im Westen zieht und zu dem unter anderem die Staaten Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad gehören. Diese Weltgegend, auch despektierlich „Putschgürtel“ genannt, hat letzthin vor allem durch Aufstände, islamistischen Terror, Gewalt, auch russischen Einfluss und Quellen von Flüchtlingsströmen nach Europa von sich reden gemacht. So putschten 2020 die Militärs in Mali, 2022 in Burkina Faso und 2023 in Niger. Genau hier taucht Ehrich ein, geht den Entwicklungen der vergangenen Jahre nach und zeigt Land für Land auf, welchen – negativen – Einfluss die westlichen (Kolonial-)Mächte auf den Fortgang der Dinge hatten.
„63 Jahre Ausbeutung reichen“
Das gilt vor allem für Frankreich, das auch nach der Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit seinen Einfluss aufrechterhalten und viel Geld in der Region verdient hat, wie Ehrich schreibt – zum Beispiel mit Bodenschätzen. Dagegen begehrten die Menschen jetzt auf, meint er, sie wollten echte Souveränität. „63 Jahre Ausbeutung reichen. Es lebe das unabhängige Volk Nigers“, zitiert der Autor den Schriftzug eines Plakats, das Demonstranten im Spätsommer 2023 nach dem Sturz des gewählten Präsidenten, Mohamed Bazoum, in Niamey in die Höhe hielten. Es steht symbolisch für die Abkehr großer Teile der Bevölkerung in dieser Weltregion von den westlichen Ländern, die, so lässt sich Ehrichs Standpunkt grob verkürzen, Demokratie predigten, Menschenrechten das Wort redeten, aber dann doch überwiegend eigene Interesse verfolgten. Zum Beispiel die Uranvorräte auszubeuten. Ihr Auftreten sei heuchlerisch und doppelbödig. Bazoum sei ein „Scheinpräsident in einer Fassaden-Demokratie, einem System ohne echte Freiheiten für seine Bürgerinnen und Bürger“ gewesen, beschreibt er die Gründe für den Putsch in Niger. In Paris, aber auch Berlin sei Bazoum dagegen als demokratischer Hoffnungsträger gefeiert worden, bar der Realitäten vor Ort.

Und die beschreibt Ehrich ganz wunderbar. Man merkt, dass er viel in der Region unterwegs ist. Er kennt die Länder, lässt Menschen und Schicksale aufleben: Ob es die Laborantin in einem Krankenhaus ist oder ein Tuareg-Kämpfer, ein früherer Arbeiter im Uranabbau oder ein ehemaliger Schlepper – immer dann, wenn er konkret und fassbar schreibt, wenn es um menschliche Erfahrungen geht, ist das Buch besonders spannend.

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In Afrika liegen auch die größten noch nicht genutzten Agrarflächen; dort befindet sich mithin ein guter Teil zur Lösung des Welternährungsproblems. Viele der für unser Überleben wichtigen Biodiversität-Hotspots sind ebenfalls dort. Zudem hat der Kontinent ein riesiges Potenzial für erneuerbare Energien: Ob Wind- oder Wasserkraft, Solar oder Geothermie, die Möglichkeiten sind nicht einmal in Ansätzen ausgeschöpft. Nach Angaben der Internationalen Energie Agentur würde schon ein Prozent des Geothermie-Potenzials ausreichen, um bis 2050 den gesamten Kontinent mit Strom zu versorgen. Auch Europa könnte von einem Elektrizitätsboom dort profitieren. Schließlich hat die Unternehmensberatung McKinsey errechnet, dass Afrikas Konsumnachfrage bis 2030 bei drei Billionen Dollar liegen und damit einen gigantischen Markt eröffnen könnte.
Politische Lösungen bleiben leider unklar
Die politische Analyse hingegen hätte man sich deutlicher und klarer gewünscht. Da bleibt manches vage und widersprüchlich. Ehrich klagt bei seiner gedanklichen Reise durch die Länder der Sahelzone viel an, vor allem Frankreich. Dabei verfällt er manchmal auch in das alte „Kolonialherren-Bashing“, das Kofi Annan, selbst Afrikaner, bereits in den Neunzigerjahren als keine ausreichende Erklärung für Probleme erachtete. So weiß man am Ende nicht, soll Europa mehr oder weniger machen in Afrika? Mit Friedenstruppen oder ohne? Mit Militärregierungen zusammenarbeiten, oder nicht? Wie könnte eine „ehrliche“ Politik ohne die zu Recht kritisierte Überheblichkeit aussehen? Man ahnt, dass Ehrich für Partnerschaften eintritt, bei denen beide Seiten ihre Interessen offen auf den Tisch und dann übereinanderlegen. Aber so genau kommt das nicht an.

Trotz dieser Unschärfe leistet das Buch einen wichtigen Beitrag, weil es Afrika vor allem durch die interessanten Reportage-Elemente näher an Europa heranzoomt. Das ist in geopolitisch aufgeladenen Zeiten wie diesen nötiger denn je.
Friederike Bauer arbeitet als freie Journalistin und Autorin. Sie schreibt vor allem über Außen- und Entwicklungspolitik sowie über Nachhaltigkeitsthemen.