Niedriglohnsektor:Der hässliche Rand des Wohlstands

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Schuften im Akkord: Schlachthöfe stehen immer wieder in der Kritik für ihre Entlohnungspolitik. (Foto: Daniel Vogl/dpa)

Vollgekotzte Waschbecken in Wohnheimen und Arbeiter, die sich selbst die Zähne ziehen: Der Journalist Sascha Lübbe hat ein aufrüttelndes Buch über Migranten im Niedriglohnsektor geschrieben.

Rezension von Benedikt Peters

Neulich, am Münchner Hauptbahnhof, standen diese zwei Männer. Sie trugen Overalls und Schutzhelme, und sie schwangen Maurerkellen, eine Wand war zu verputzen. Als man sie etwas fragen wollte, schüttelten sie bloß ihre Köpfe: „Nicht verstehen, Bulgarisch.“ Nun gut, dann ging man eben weiter.

Es sind Begegnungen wie diese, über die anders nachdenkt, wer „Ganz unten im System“ des Berliner Journalisten Sascha Lübbe gelesen hat. Haben die beiden Arbeiter vom Hauptbahnhof einen vernünftigen Schlafplatz, oder nächtigen sie auf einer schimmligen Matratze? Zahlt man ihnen den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn oder prellt man sie darum? Und wie lange haben sie wohl schon ihre Kinder nicht gesehen, wenn sie denn welche haben?

„Die Unsichtbaren“, so nennt Lübbe die 1,1 Millionen Menschen aus dem Ausland, aus Polen, Rumänien, Bulgarien, aus der Ukraine, dem Irak und Usbekistan, die etwa ein Drittel des Niedriglohnsektors ausmachen. Sie verrichten die Arbeiten, die in Deutschland sonst niemand machen will. Sie zerlegen Schweinehälften am Fließband, schleppen Zementsäcke auf dem Bau, liefern Essen aus, verbringen ihr Leben als Lkw-Fahrer auf der Autobahn.

Man sieht die Leute, aber erfährt nichts über sie

Mit seinem Begriff der „Unsichtbaren“ trifft Lübbe einen Punkt: Die ausländischen Arbeiter mögen zwar an sich gut zu sehen sein: Man begegnet ihnen im Büro, wenn die Reinigungskolonne putzt, oder an der Haustür, wenn man Pakete in Empfang nimmt. Aber diese Begegnungen haben immer etwas Flüchtiges; welche Menschen das sind, wie sie leben und welche Geschichte sie haben: Davon erfährt man nichts.

Das lässt sich durchaus als Missstand auffassen, allein schon, weil die ausländischen Arbeiter angesichts des leer gefegten Arbeitsmarkts immer wichtiger werden. „Es ist, als würden sie in einer Parallelwelt leben“, schreibt Lübbe, und an anderer Stelle: „Dabei geht ohne sie fast nichts mehr in diesem Land.“ Das mag etwas zugespitzt sein, falsch ist es nicht. 400 000 Menschen müssen jedes Jahr netto einwandern, damit Deutschland den Arbeitskräftemangel in den Griff bekommt, so hat es das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung errechnet.

Einiges läuft gewaltig schief

Die große Stärke von „Ganz unten im System“ ist, dass der Autor dem Leser die Parallelwelt der Unsichtbaren erschließt – die Welt also, die der Soziologe Gerhard Bosch den „hässlichen Rand“ des deutschen Wohlstands nennt. Lübbe geht dorthin, wo es anstrengend ist und manchmal stinkt. Er folgt den Arbeitern in Wohnheime, in denen mal wieder das Waschbecken vollgekotzt ist; er trifft sie in beengten Wohnungen mit Wasserflecken an den Wänden und auf Rastplätzen, auf denen Lkw-Fahrer in ihren Führerhäuschen das Wochenende verbringen, weil der Chef das Hotel nicht zahlen will.

Nicht nur Parkplatz, sondern für viele Lkw-Fahrer auch Schlaf- und Wochenlandeplatz: Autobahnraststätte in Brandenburg. (Foto: Ralf Hirschberger/dpa)

So lernt man nach und nach viele Menschen kennen, deren Geschichten den Schluss nahelegen, dass im Land der sozialen Marktwirtschaft ein paar Dinge gewaltig schieflaufen: Da ist zum Beispiel Marian aus Rumänien, der sich selbst die Zähne zieht, weil er keine Ahnung hat, wie er an einen Arzt kommen soll. Da sind Eugen und Petre, ebenfalls aus Rumänien, die unter falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt wurden und mehr als zehn Stunden am Tag am Fließband einer Fleischfabrik schuften. Da sind Bauarbeiter, die auf ihre Löhne warten, und Lkw-Fahrer aus Usbekistan, die ihre Kinder nur vom Handybildschirm kennen.

Lübbe erzählt von diesen und noch einigen anderen Menschen in einer klaren, präzisen Sprache, und es gelingt ihm, die Einzelschicksale mit den politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Hintergründen zu verbinden. Darin erinnert er an die Berliner Autorin Julia Friedrichs, die bereits einige erfolgreiche Bücher zur Arbeiterklasse und gesellschaftlicher Ungleichheit veröffentlicht hat.

Auch Arbeitgeber und Subunternehmer kommen zu Wort

Der Autor verharrt nicht bei den bedrückenden Geschichten der ausländischen Arbeiter, sondern begibt sich auch zu anderen Akteuren des Systems. Er spricht mit Arbeitgeberverbänden und Subunternehmern, mit Gewerkschaftern und Sozialarbeitern, er begleitet einen Einsatztrupp des Zolls, der die Betriebe kontrollieren soll. Und er trifft EU-Politiker, die für einige der Arbeiter etwas verbessern wollten, dabei aber von Parlamentariern mit anderen Interessen ausgebremst wurden.

Sascha Lübbe: Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern. Hirzel-Verlag, Stuttgart 2024. 208 Seiten, 24 Euro. (Foto: Hirzel-Verlag)

So setzt Lübbe Satz für Satz ein Bild zusammen, das zeigt, wo die Ursachen für die prekären Zustände liegen. Da wären zum Beispiel die langen Subunternehmerketten am Bau: Ein Auftrag wird von Firma zu Firma weitergereicht, jede behält als Provision einen Teil der Bezahlung ein – und am Ende ist für den Betrieb, der den Auftrag tatsächlich ausführt, zu wenig Geld da, um die Beschäftigten fair zu entlohnen. Da wären die Kontrollen der Arbeitsbedingungen, die zu selten stattfinden, und Regeln, die leicht umgangen werden können. Und da wären die großen Abhängigkeiten der Beschäftigten: Oft hängt ihre Wohnung oder ihr Aufenthaltstitel an ihrem Job. Wenn sie aufbegehren, riskieren sie ihre Entlassung – und damit, obdachlos zu werden oder Deutschland verlassen zu müssen. Das erklärt auch, warum die Gewerkschaften hierzulande kaum an die ausländischen Arbeiter herankommen.

Wenn man Lübbe kritisieren möchte, dann für den einen oder anderen historischen Ausflug, der ein wenig zu lang gerät; oder für eine Passage zum Wesen des Lobbyismus in Deutschland, die keine wirklich neuen Erkenntnisse bereithält. Dass einem das auffällt, zeigt aber nur umso deutlicher, wie erhellend die übrigen Seiten sind. Verbesserungen wären möglich, das ist die Erkenntnis dieses Buchs – wenn sich nur mehr Menschen den Interessen der „Unsichtbaren“ annähmen.

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