Niedriglohn:Armes Deutschland

Wer wenig verdient, zahlt überproportional hohe Sozialabgaben und ist oft prekär beschäftigt. Für diese Bevölkerungsgruppe muss sich das Arbeiten wieder lohnen.

Von Catherine Hoffmann

Die deutsche Wirtschaft boomt. Aber es boomt auch etwas anderes: das Unwohlsein über die kapitalistische Gegenwart. Ein Aufstieg durch Leistung, Chancengerechtigkeit und Bildung gelingt immer weniger Menschen. Werkverträge, Leiharbeit, Minijobs, Teilzeitarbeit und andere atypische Beschäftigungsverhältnisse sind für viele Alltag - und damit Einkommen, die kaum zum Leben reichen. In den vergangenen 20 Jahren ist der Niedriglohnsektor stetig gewachsen, mehr als ein Fünftel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist hier beschäftigt. Es ist das prekäre Dickicht am unteren Ende des Arbeitsmarktes, in dem viele Menschen längst auf Dauer verfangen sind, Verkäuferinnen und Paketboten, Haushälterinnen und Friseure, Erzieherinnen und Köche, die oftmals keine 2000 Euro brutto im Monat verdienen.

Ihnen liefert die soziale Marktwirtschaft nicht das, was sie einmal versprochen hat, Aufstiegschancen, soziale Sicherheit und vor allem das Gefühl, wertvoller Teil eines funktionierenden Ganzen zu sein - und eben nicht Bodensatz der Gesellschaft ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In Frankreich kann man gerade beobachten, was passiert, wenn sich die Menschen von der Politik vernachlässigt fühlen, wenn die Ohnmacht der Bürger in Wut umschlägt. Seit Tagen halten Massendemonstrationen, Straßenblockaden und Randale das Land in Atem. Die Bewegung der "Gelben Westen" brachte die schwelende Unzufriedenheit mit der Politik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den viele für abgehoben halten, zum Lodern.

Auch in Deutschland richtet sich die Politik vor allem an wohlhabende Eliten und die Mittelschicht, die sogenannten "kleinen Leute" aber werden vergessen - es sei denn, man diskutiert mal wieder über Hartz IV. Doch das größte soziale Problem ist nicht die Grundsicherung, es ist der Niedriglohnsektor. Er sollte in den Fokus rücken und damit die Frage, wie sich Arbeit für Menschen mit geringen Gehältern wieder lohnen kann. So wie in den Jahrzehnten nach dem Krieg, als das Emporkommen noch weit verbreitet war. Der Soziologe Ulrich Beck prägte dafür den Begriff vom "Fahrstuhleffekt", der alle Schichten, vom Arbeitnehmer bis zum Vermögensbesitzer, mit nach oben nahm.

Der Fahrstuhl hält nicht mehr im Erdgeschoss der einfachen Beschäftigten

Heute hält der Fahrstuhl nicht mehr im Erdgeschoss der einfachen Beschäftigten. Union und FDP bieten den Zurückgelassenen als Lösung gern Steuersenkungen an. Doch die helfen kaum, da unter den Niedriglöhnern allenfalls die Singles einige Steuern zahlen. Und die sind in fast allen Fällen niedriger als die Sozialabgaben. So zahlt eine vollzeitbeschäftigte Verkäuferin mit einem Bruttolohn von 1973 Euro im Monat lediglich 178,66 Euro Steuern und 9,82 Solidaritätszuschlag. Obendrauf kommen allerdings Sozialabgaben: Rente, Arbeitslosenbeitrag, Krankenkasse und Pflegeversicherung summieren sich für die alleine lebende Verkäuferin auf 408,90 Euro. Die Sozialabgaben wirken wie eine Strafsteuer für Geringverdiener. Wer mehr Geld nach Hause bringt, muss von jedem zusätzlichen Euro einen großen Teil wieder abgeben - in Form von Sozialversicherungsbeiträgen. Für Großverdiener, die ohnehin den Höchstbeitrag zahlen, lohnt es sich dagegen sehr, das Gehalt zu steigern, da die Beiträge zur Renten- und Krankenkasse gedeckelt sind.

Noch schlimmer kommt es, wenn Menschen so wenig Einkommen haben, dass sie auf staatliche Transferleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag angewiesen sind. Denn die werden mit steigendem Einkommen gekürzt. Das Zusammenspiel von Steuern, Sozialabgaben und Transfers führt dazu, dass Menschen mit geringen Einkommen nur einige Cent von jedem Euro bleiben, den sie hinzuverdienen. Im Extremfall schaden sie sich sogar: So hat eine Alleinerziehende mit zwei Kindern in einem Einkommensbereich um die 2000 Euro das Pech, dass jeder Euro zusätzliches Bruttoeinkommen ihr Nettoeinkommen schrumpfen lässt. Das ist absurd, aber es ist leider kein neues Problem. Angegangen wird es nicht.

Wer Beziehern kleiner Einkommen den Aufstieg ermöglichen will, der sollte ihre Sozialabgaben verringern, damit mehr von ihren Bruttogehältern übrig bleibt. Und er sollte dafür sorgen, dass die Sozialtransfers bei einem Zuverdienst nicht so schnell und radikal gestrichen werden wie bisher. Mit anderen Worten: Arbeit muss sich wieder lohnen.

Das erfordert auch, dass der Niedriglohnbereich deutlich schrumpfen muss. Hier kann ein höherer Mindestlohn helfen. Zusätzlich muss es gelingen, künftig viel mehr Menschen im Niedriglohnbereich durch flächendeckende Tarifverträge abzusichern als heute. Sinnvoll sind regulatorische Eingriffe, die unsichere Beschäftigungsverhältnisse einschränken. Nicht zu vergessen: Bildung für das wachsende perspektivlose Dienstleistungsproletariat und seine Kinder.

Armut trotz Arbeit darf nicht länger beschwiegen werden. Es ist an der Zeit für ein Aufbegehren.

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