Süddeutsche Zeitung

Niedrige Wahlbeteiligung in Bremen:Arm wählt nicht

  • Wer die Grafiken zur Wählerwanderung studiert, stellt fest: Die Gruppe der Nichtwähler hat am Wochenende in Bremen mehr Stimmen dazugewonnen als jede Partei.
  • Besonders in ärmeren Stadtvierteln gehen die Menschen nicht mehr an die Urnen.
  • Diese Entwicklung sollte vor allem bei der SPD zu einem Umdenken führen.

Von Hannah Beitzer, Bremen

Der eigentliche Wahlsieger in Bremen ist der Nichtwähler. So könnte man das Ergebnis der Bürgerschaftswahl zynisch kommentieren. Gerade einmal die Hälfte aller Wahlberechtigten gab gestern ihre Stimme ab, weswegen die Nichtwähler mit Abstand das größte Lager bildeten. Sieger sind sie aber nicht, im Gegenteil. Vielmehr ist ihre Enthaltsamkeit eines von vielen sichtbaren Zeichen der sozialen Spaltung, unter der Bremen leidet.

Denn der Anteil von Nichtwählern ist in denjenigen Stadtteilen groß, die auch sonst als abgehängt gelten. Arbeitslose und Menschen mit wenig Bildung gehen besonders selten zur Wahl - eine Entwicklung, die sich nicht nur in Bremen, sondern in ganz Deutschland abzeichnet. Der Bremer Landeswahlleiter Jürgen Wayand warnte bereits vor der Wahl im Weser Kurier: "Das Parlament verliert irgendwann seine Legitimation, wenn sich die Hälfte aller Wahlberechtigten nicht mehr dafür interessiert." Dieser Punkt ist jetzt erreicht.

Dabei hat Bremen einiges versucht, um den Effekt abzubremsen, zum Beispiel Wahlzettel in leichter Sprache. Doch es hat nichts gebracht. Darüber muss sich in Bremen vor allem die SPD Gedanken machen, sie hat von allen Parteien die meisten Wähler auf diese traurige Weise verloren.

Gerade die SPD hat in den vergangenen Jahren das Vertrauen der unteren Gesellschaftsschichten eingebüßt. Galt sie vor allem zur Zeit Willy Brandts als die Partei, die den sozialen Aufstieg ermöglicht, Arbeiterkindern Chancen eröffnet und auch die einfachen Leute in die Politik integriert, gilt sie nun wieder als Partei von Hartz IV und Agenda 2010, der sozialen Kälte und der Gleichgültigkeit. Noch hat sie keinen Weg gefunden, dieses Bild zu korrigieren.

Auch direkte Demokratie wird gegen Wahlmüdigkeit nicht helfen

Davon profitiert mancherorts die Linke, wie in Bremen. Dort hat Fraktionschefin und Spitzenkandidatin Kristina Vogt mit sozial orientierter, aber auch pragmatischer Oppositionsarbeit ihre Partei in den Wahlen auf zehn Prozent gehoben - eine beachtliche Leistung, galt die Linke in Bremen doch lange als notorisch zerstritten und politisch unbrauchbar. Am stetigen Sinken der Wahlbeteiligung in Bremen ändert das trotzdem nichts.

In Umfragen geben Nichtwähler oft Frust über "die Politik" im Allgemeinen als Grund an, ihre Stimme zu verweigern. Häufig spielt auch das Gefühl eine Rolle, mit der eigenen Stimme nichts verändern zu können. Als Instrument gegen Politikverdrossenheit gelten manchen daher direktdemokratische Prozesse und Abstimmungen über einzelne Themen. Die gibt es auf Landesebene in Deutschland immer häufiger - sei es von Bürgern initiiert oder wie bald im Fall der Olympischen Spiele von der Hamburger Bürgerschaft.

Besonders die von Bürgerinitiativen angestoßenen Abstimmungen sind jedoch im Hinblick auf die sozial Schwachen mit Vorsicht zu genießen. Denn sie sind noch mehr als repräsentative Wahlen ein Instrument der privilegierten Schichten, ihre Interessen durchzusetzen. Studien zeigen, dass sich vor allem gebildete Bürger in Initiativen engagieren. Auch sie sind nicht immer automatisch wohlhabend, aber oft. Ihre Interessen müssen aber nicht zwangsweise den Interessen der ärmeren Schichten widersprechen - so läuft zum Beispiel in Berlin gerade ein Volksbegehren für günstige Mieten, von dessen Erfolg vor allem die Bewohner von Sozialwohnungen profitieren würden.

Letztendlich ist in einer repräsentativen Demokratie allerdings das Vertrauen in die Politik wichtig. Eben das Gefühl, jemandem die eigene Stimme übertragen zu können, gerade wenn die Zeit, die Bildung oder die Kraft fehlt, sich selbst fortwährend mit Politik beschäftigen zu können. Auf dieses Gefühl sind besonders weniger gebildete, arme Menschen angewiesen. Ihre Interessen zu vertreten, ist die Pflicht von Politikern, die selbst inzwischen auch in der einstigen Arbeiterpartei SPD aus einer ganz anderen Schicht kommen.

In Bremen zeigt sich nun ganz deutlich, dass ein "Weiter so" für die Sozialdemokraten keine Option ist. Denn davon profitieren Protestparteien wie die AfD - oder eben Parteien wie die FDP, die gar nicht erst den Anschein erwecken, die Interessen der Abgehängten besonders vertreten zu wollen.

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