Kritische Infrastruktur:„In Friedenszeiten denkt niemand gern darüber nach“

Lesezeit: 3 Min.

Die Reparaturarbeiten für eine neue Hilfsbrücke über die Hunte sind im Gange. Die Häfen Brake und Nordenham bleiben solange vom Schienenverkehr abgeschnitten. (Foto: Hauke-Christian Dittrich/DPA)

Gleich zweimal rammten Schiffe eine Eisenbahnbrücke im Nordwesten Niedersachsens. Seither sind wichtige Häfen nicht mehr auf Schienen erreichbar. Das hat Folgen für die Region – und die Welt.

Von Ulrike Nimz, Hamburg

Die Eisenbahnbrücke bei Elsfleth war ein solides Bauwerk, drehbar, 115 Meter lang. Seit 1927 überspannte die Stahlkonstruktion die Hunte, einen Nebenfluss der Weser, stand gut sichtbar in der Landschaft. Bis im Februar das Frachtschiff Rapida auf einer Leerfahrt hineinkrachte: Die Schienen waren verbogen, der Unterbau kaputt, der Schaden irreparabel.

Ein „Jahrhundertereignis“, hieß es damals, menschliches Versagen, passiert so schnell nicht wieder. Die Bahn errichtete in nur 60 Tagen Bauzeit eine Behelfsbrücke, 30 Zentimeter niedriger als die ursprüngliche Querung. Im Juli schätzte dann ein Kapitän des Binnentankers Naima den schwankenden Pegel der tideabhängigen Hunte falsch ein, ramponierte bei einer erneuten Kollision nicht nur das Dach seines Führerhauses, sondern auch die Oberleitung. Seither fährt erneut kein Zug zwischen Nordenham und Hude. Das ist ärgerlich für Schüler, Berufspendler und Touristen – und von sicherheitspolitischer Bedeutung.

Getreide aus der Ukraine, Munition aus den USA – die Häfen links der Weser sind systemrelevant

Denn seit im hoch industrialisierten Landkreis Wesermarsch ein „Jahrhundertunfall“ den nächsten jagt, sind auch die Häfen westlich der Weser vom Schienenverkehr abgeschnitten. In Brake stehen 38 gigantische, wabenförmige Silos. Der Hafen hat die höchsten Lagerkapazitäten für Getreide und Futtermittel in Europa. Ein Großteil kommt aus der Ukraine. Seit Russland die Häfen am Schwarzen Meer und der Donau beschießt, exportiert das Land einen Teil seines Getreides mit der Bahn und – die fährt jetzt nicht mehr bis Brake.

„Der erneute Unfall hat sich wie ein böses Déjà-vu angefühlt“, sagt Jan Müller, Präsident der Oldenburger Industrie- und Handelskammer sowie geschäftsführender Gesellschafter der J. Müller AG. Das Familienunternehmen betreibt Seehafenterminals in Brake und Bremen, ist seit 200 Jahren eng verbunden mit der Region und ihrer Verkehrsstruktur. 30 Prozent des Umsatzes machen sie auf der Schiene. Derzeit muss die Ware erst mit dem Zug nach Bremen gefahren werden, wird von dort mit Binnenschiffen nach Brake transportiert – eine Notlösung und deutlich teurer.

Die Huntebrücke nennt Jan Müller eine „erkennbare Achillesferse“. Schon in der Vergangenheit sei es zu kleineren Havarien gekommen, stets hätten Binnenschiffer die Durchfahrtshöhe falsch eingeschätzt. Müller fordert weitere Schutzmaßnahmen „gegen menschliche Ignoranz“, eine Höhenkontrolle wie bei Tunneln etwa oder eine Ampel wie bei der Einfahrt in eine Schleuse.

Sabotage gilt als ausgeschlossen, müsse aber zukünftig mitgedacht werden

Nach den Kollisionen hat der Staatsschutz die Schiffsführer durchleuchtet, einen Vorsatz ausgeschlossen. Mit der Möglichkeit von Sabotageakten müsse man sich angesichts der strategischen Bedeutung der Häfen trotzdem auseinandersetzen, sagt Müller, auch wenn in Friedenszeiten niemand gern darüber nachdenke. Kritische Infrastruktur müsse konsequent identifiziert werden.

Zwei folgenschwere Kollisionen in einem halben Jahr: Spaziergänger am Ufer der Hunte schauen sich die Brückenbaustelle in Elsfleth an. (Foto: Lars Penning/DPA)

 „Es ist nicht schlimm, dass es nur diese eine Bahnstrecke gibt, aber dann bedarf es besonderer Anstrengung, sie zu schützen“, sagt Müller und spricht von der Notwendigkeit „eingeübter Eskalationspläne“. Im Ernstfall seien patrouillierende Polizeiboote auf der Weser und harte Zugangskontrollen inklusive Bewachung denkbar. Durch Unfälle oder Sabotage veränderte Warenströme seien immer ein Problem. „Man kann nicht so einfach Tausende Tonnen täglich woanders umschlagen.“ Die Häfen an der Weser sind hoch spezialisiert. Es gibt Unterschiede bei Lagereinrichtungen und Genehmigungen. Das gilt für Lebensmittel wie Getreide und erst recht für Militärgüter.

Über mögliche Folgen für die militärischen Nachschublinien wahrt man Diskretion

Knapp 30 Kilometer nördlich, in Nordenham, betreibt der globale Logistikdienstleister Rhenus den größten öffentlich zugänglichen Privathafen Deutschlands. Seit Jahrzehnten wird dort Munition für US-Streitkräfte umgeschlagen, mit Zügen weitertransportiert zu Militärstützpunkten in Deutschland – und in die Ukraine. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges haben immer wieder US-Militärschiffe wie die Leroy A. Mendonca in Nordenham festgemacht. Anwohner berichten von Sperrungen in der Stadt, von Güterzügen voller Container, an deren Ende ein Personenwagen voller bewaffneter Militärs gekoppelt ist.

Was und wie viel genau in Nordenham aus- und umgeladen wird, welche Folgen die Brückenkollision für die militärischen Nachschublinien in die Ukraine hat, ob und welche Ausweichmöglichkeiten gefunden wurden, darüber herrscht höfliche Diskretion. Weder der Geschäftsführer der Rhenus-Midgard GmbH in Nordenham noch das niedersächsische Wirtschaftsministerium geben dazu detaillierte Auskunft, verweisen auf sicherheitspolitische Bedenken. „Die Huntebrücke steht sinnbildlich dafür, wie anfällig unsere Infrastruktur sein kann“, sagt Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD). Auch er spricht von einem „systemrelevanten Flaschenhals“ und begrüßt, dass sich nun eine Taskforce dem Thema widmet.

Mitte dieser Woche trafen sich unter Federführung der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und der Deutschen Bahn Vertreter des Bundes, der Wirtschaft und des Landes, um weitere Sicherheitsmaßnahmen zu diskutieren. Unter anderem sollen die Durchfahrtsbereiche gelb gestrichen werden. Außerdem muss sich künftig jedes Schiff vor dem Passieren der Brücke beim „Wahrschaudienst“ melden, einer Art Warnstelle in der Binnenschifffahrt. Voraussichtlich in der kommenden Woche soll die Brücke wieder für Züge befahrbar sein, bis 2028 ganz neu gebaut werden. Mit einer wichtigen Änderung: Die Durchfahrt wird 1,93 Meter höher sein.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusInfrastruktur
:Ein Land steht still

Marode Brücken, ruinierte Bahnhöfe, kaputte Straßen, fehlende Trassen – und: kein Netz. Neueste Schätzungen aus der Republik der Sitzenbleiber.

Von Gerhard Matzig

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: