Niederlande:"Viele fragen, wie Rutte das politisch überleben kann"

Niederländische Regierung zurückgetreten

Der Premier, der mit dem Fahrrad kommt: Mark Rutte vor seinem Amtssitz in Den Haag.

(Foto: dpa)

Die Politologin Catherine de Vries über die Ausgangslage vor der Parlamentswahl in den Niederlanden - und den Kinderzuschlag-Skandal, der den Premierminister belastet.

Interview von Thomas Kirchner

In den Niederlanden wird am Mittwoch ein neues Parlament gewählt. In Umfragen liegen die Rechtsliberalen des bisherigen Premierministers Mark Rutte weit vor der islamkritischen Freiheitspartei von Geert Wilders und den Christdemokraten. Ein Gespräch mit der Politologin und Kolumnistin Catherine de Vries, 42, die an der Wirtschaftsuniversität Luigi Bocconi in Mailand lehrt.

SZ: Wird das eine spannende Wahl?

Catherine de Vries: Es wird nichts Neues geben, sondern mehr vom Gleichen. Alles wird dominiert von der Corona-Krise. Andere Konflikte treten in den Hintergrund. Manche sagen, es sei eine Art Zwischenwahl, nur für die kommenden zwei Jahre, in denen es vor allem um die Bewältigung dieser Krise geht.

Und der rechtsliberale Premier Mark Rutte darf einfach weitermachen?

So sieht es aus, obwohl er in den Umfragen zuletzt etwas verloren hat. Aber die Kinderzuschlagsaffäre ist noch nicht ausgestanden. Es geht darum, dass der Staat von Tausenden Familien zu Unrecht Geld zurückforderte, viele stürzten ins Elend. Deswegen trat im Januar die ganze Regierung zurück. Das wird jetzt von einer weiteren unabhängigen Kommission näher untersucht, da wird noch einiges herauskommen, etwa zum Vorwurf, dass viele Opfer mit migrantischem Hintergrund bewusst diskriminiert wurden.

Catherine de Vries, honorarfrei, privat

Catherine de Vries, 42, ist Politikwissenschaftlerin an der Universität Bucconi, Mailand, und Kolumnistin für NRC Handelsblad.

(Foto: privat)

Was sagt diese Affäre aus über die Ära Rutte?

Sie wirft einen Schatten auf diese Zeit. Viele fragen, wie Rutte das überhaupt politisch überleben kann. Aber die Koalitionsregierungen sind ideologisch immer recht breit bei uns. Für die Affäre waren auch Christ- und Sozialdemokraten im Kabinett verantwortlich, da ist es schwierig für sie, jetzt auf Opposition zu machen.

Wie hat es Rutte geschafft, so lange so erfolgreich zu sein?

Indem er immer mit dem Wind ging. Er ist zwar ein ganz anderer Typ als Angela Merkel. Aber er macht es ähnlich wie sie: sich nie so schnell festlegen, erst mal schauen, wie es läuft, dann erst Stellung beziehen. Der Wahlkampf seiner Partei VVD ist voll auf ihn zugeschnitten: Rutte als Anführer in der Not. Er selbst verkauft sich als einer, der es gut meint mit dem Land, der zwar mal Fehler macht, aber nie mit böser Absicht. So sehen das auch viele Bürger. Die Frage ist, ob es stimmt.

Und, stimmt es? Wie sehen Sie seine politische Bilanz?

Dieser Kinderzuschlag-Skandal ist einer der schlimmsten in der Nachkriegsgeschichte. Am Anfang stand das Gefühl, dass es angeblich zu viele Menschen gibt, die Hilfe gar nicht brauchen, sondern den Staat nur ausnützen wollen. Was man unbedingt verhindern wollte. Das passte zur liberalen Politik, und das passt zu Rutte. Der ist mehr Tory-Politiker, der Staat soll sich raushalten. Zur Bilanz gehört, dass Rutte rechte Politik in den Niederlanden neu definiert hat. Die war früher christdemokratischer und sozialer. Unter Rutte ist sie härter geworden: Mehr Individualismus und Eigenverantwortung, der Staat soll nur noch eine minimale Rolle spielen.

Und wie hat sich Rutte in der Corona-Politik geschlagen?

Es wurden wie überall viele Fehler gemacht. Am Anfang glaubten Rutte und sein oberster wissenschaftlicher Berater offensichtlich an die Idee der Herdenimmunität, obwohl Rutte das dementiert. Als es in Schweden nicht so gut lief, musste man auch in den Niederlanden stärker eingreifen. Es gab den "intelligenten" Lockdown - als wäre man anderswo weniger intelligent. Ein Mundschutz bringe gar nichts, hieß es lange, und bis heute hat sich Rutte nicht ein einziges Mal testen lassen. Als die Rechte die Gefahr der Pandemie immer mehr herunterspielte, hat er gemerkt, dass sich die Lage dreht, und er trat dann härter auf. Das zeigt seine Lernfähigkeit und seine Management-Qualität. Er hat die Corona-Politik auch geschickt entpolitisiert und stets die Experten vorgeschoben.

Sehen Sie ernsthafte Gegenspieler?

Da hat sich etwas getan in den vergangenen Wochen. Viele dachten, der neue christdemokratische Spitzenmann Wopke Hoekstra könnte es schaffen, aber er kam nicht gut an bisher. Besser macht sich Sigrid Kaag, Spitzenkandidatin der linksliberalen D66. Sie tritt schon auf wie eine Ministerpräsidentin, und ihr hilft, dass noch nie eine Frau ganz oben war. Aber ihre Partei ist zu schwach, als dass es schon reichen könnte.

Und Geert Wilders, ganz rechts? Sein Programm ist wieder heftig antiislamisch und antimigrantisch, offensichtlich will er nicht mitregieren.

Wilders hat natürlich das Problem, dass derzeit keine Migranten ins Land kommen. Stattdessen schimpft er, dass viel Geld über den europäischen Corona-Fonds nach Italien und Spanien fließt. Wilders bleibt, wie er ist. Er gilt inzwischen als stabilisierender Faktor in der niederländischen Politik, und tatsächlich macht er seine Sache als Politiker auch gut. Umfragen sehen ihn an zweiter Stelle. Aber das bringt ihm wenig, weil er nicht an der Regierung beteiligt werden wird. Interessant ist, dass Volt, eine dezidiert proeuropäische Partei, mit immerhin drei Sitzen rechnen kann.

Europapolitik war kein wichtiges Thema in den Debatten. Warum? Es gäbe viel zu diskutieren.

Durchaus. Es gibt eine Twitter-Bewegung, die das kritisiert, und zuletzt wurde ein bisschen mehr über Europa geredet. Aber die meisten Politiker denken: all politics is local. Die Parteien rechts der Mitte reden auch nicht so gern über das Thema, weil sie da intern zerstritten sind. Das wollen sie nicht offen zeigen.

Es wird in den Niederlanden viel geklagt über die EU, aber ohne sie will man auch nicht sein. Wohin will das Land also in Europa?

Das ist die Millionen-Frage. Nach dem Brexit geht es nicht mehr um drinnen oder draußen; die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft ist sehr hoch. Die Euro-Skeptiker in den Niederlanden waren völlig überrascht, wie Deutschland seine Europapolitik als Reaktion auf die Corona-Krise auf einmal änderte, wie man das in Berlin als exogenen Schock sah, anders als 2010. Man hat also überlegt, was man tun kann. Auf die Briten kann man nicht mehr zählen, sie sind weg. Es gab dann den Versuch, mit ein paar anderen Ländern die Hanse-Liga als Gegenpol aufzubauen. Die Pro-Europäer entgegneten, das sei nicht wirklich im niederländischen Interesse, und man müsse doch an der Seite Deutschlands bleiben.

Aber wer Deutschland hat, bekommt immer auch Frankreich, das macht es schwieriger.

Obwohl Macron und Rutte als Liberale ganz gut miteinander können. Das Problem ist, dass man Europa in den Niederlanden immer nur als Markt betrachtet, wie in Großbritannien. Man sollte es auch als ein Projekt sehen. Und als Schicksalsgemeinschaft. Da sind die Deutschen, Franzosen und Italiener viel weiter. Das Wort Solidarität fiel während der Corona-Krise in den Niederlanden fast nie.

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