Süddeutsche Zeitung

Niederlande-Wahl:"Das Bild der liberalen Niederlande ist zum Teil ein Mythos"

Der radikale Islamkritiker Geert Wilders könnte die niederländischen Parlamentswahlen gewinnen. Historiker Friso Wielenga erklärt warum.

Interview von Leila Al-Serori

Der niederländische Historiker Friso Wielenga ist Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

SZ: Nach einer längeren Rezession geht es in den Niederlanden wirtschaftlich bergauf, die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Regierung aus Sozialdemokraten und Rechtsliberalen scheint also vieles richtig gemacht zu haben, wird Umfragen zufolge bei der Wahl am 15. März aber trotzdem abgestraft. Warum?

Friso Wielenga: Das scheint tatsächlich widersprüchlich. Aber an vielen Ecken, beispielsweise im Gesundheitswesen, ist gespart worden. Das lässt vor allem die Sozialdemokraten schlecht aussehen, ihnen wird vorgeworfen, eine konservativ-liberale Politik mitgemacht zu haben. Man kann es mit der Agenda 2010 in Deutschland vergleichen, wo sich anschließend auch viele SPD-Wähler im Stich gelassen fühlten. Es geht den Niederlanden also besser, aber nicht alle spüren das. Viele haben persönlich nichts vom Aufschwung und fühlen sich abgehängt.

Davon profitiert offenbar Geert Wilders, seine Partei für die Freiheit (PVV) könnte sogar die Wahl gewinnen. Er fährt einen antiislamischen, EU-kritischen Kurs, will Moscheen schließen und muslimische Migranten nicht mehr einreisen lassen. Hat sich in den Niederlanden ein Klima entwickelt, in dem ein Islamhasser salonfähig ist?

Ja, es gibt in den Niederlanden eine Minderheit, die intolerant und antiislamisch eingestellt ist - und diese führt Wilders an. Generell ist die Islamfeindlichkeit gestiegen. Aber nicht erst seit gestern, sondern schon seit mehr als zehn Jahren. Wilders hat diese Entwicklung klar befeuert. Gleichzeitig muss man sagen: Nicht alle, die ihn wählen sind so radikal antiislamisch wie er. Manche wählen ihn auch, weil sie sich sozial abgehängt fühlen.

Die Niederlande gelten eigentlich als weltoffenes, liberales Land. Wie passt das zur wachsenden Intoleranz?

Das Bild der liberalen Niederlande ist zum Teil ein Mythos. Die Niederländer sind nicht so tolerant, wie sie gesehen werden. Das Land besteht eben nicht nur aus Amsterdam. Die Provinz oder auch bestimmte Viertel in den Großstädten wurden zu wenig in Betracht gezogen. Der Eindruck nach außen war immer schon positiver als die Wirklichkeit. Und wir haben natürlich gerne dieses Image der liberalen Nation exportiert.

Wurden Fehler in der Integrationspolitik gemacht?

Auch. Die Niederlande waren lange in historisch gewachsenen Säulen organisiert, die protestantische, die katholische, die sozialdemokratische. Die Integrationspolitik in den 80er Jahren wurde ebenso geplant. Man gab den Migranten sozusagen auch eine Säule, ließ ihnen eigene Schulen, Vereine, ihre Sprache und Identität. Dadurch sollten sie automatisch Teil des Systems werden. Das war aber naiv und hat nicht funktioniert. Es führte zu Parallelgesellschaften.

Wilders' Bruder hat in einem Spiegel-Interview Geert Wilders als zunehmend paranoid, als abgeschirmt von der Welt durch seine Personenschützer, beschrieben. Nun hat er zuletzt auch Wahlkampfauftritte ausgesetzt. Wieso spricht er trotzdem so viele Menschen an?

Er hebt sich von den anderen Politikern ab. Wilders hat seit zwölf Jahren wegen Morddrohungen Personenschutz. Dadurch pflegt er das Image, er lebe gefährlich für seine Überzeugung. Wilders führt außerdem seinen Wahlkampf auf Twitter, er braucht die öffentlichen Auftritte nicht so sehr. Er steht sowieso im Mittelpunkt, ob er nun bei TV-Debatten und Veranstaltungen mitmacht oder nicht. Er ist ähnlich wie US-Präsident Donald Trump durch seine Tweets ständig präsent. Und er inszeniert sich klar als Vertreter der Anti-Elite. Im Sinne von: "Ihr fühlt euch verraten von den etablierten Parteien, das verstehe ich." Wilders vertritt außerdem eine linke Sozialpolitik, mit der er Abgehängte anspricht.

Aber klare Inhalte fehlen ihm, sein ganzes Parteiprogramm steht auf einer DIN-A4-Seite ...

Ja. Seine Pläne sind auch nicht finanzierbar. Ein EU-Austritt beispielsweise wäre fatal, die Niederlande sind so abhängig vom freien Handel wie kaum ein anderes Land. Aber er spricht die Sorgen vieler Wähler an. Die Frage nach der Identität ist wichtiger geworden. Nicht umsonst ist eine zentrale Losung Wilders: "Ich möchte den Niederländern die Niederlande zurückgeben."

Wilders will weniger Migranten und einen Austritt aus der EU, sozusagen eine Rückkehr in eine "heile Welt" - die es so natürlich nie gab. Die Überschaubarkeit von früher wird idealisiert, die Identität als bedroht erklärt. Das zeigt sich auch in der Diskussion um die Figur "Zwarte Piet". Dieser Knecht des Nikolaus ist traditionell schwarz - was immer wieder den Vorwurf der Diskriminierung einbrachte. Dass der "Zwarte Piet" nicht mehr schwarz sein soll, wird von Wilders und vielen Niederländern als Raub der Identität gesehen. Es geht also auch um die Frage: Wer sind wir eigentlich?

Eine Debatte, die nicht nur in den Niederlanden aktuell ist. Könnte ein Sieg Wilders auch der AfD in Deutschland oder dem Front National in Frankreich Aufwind geben?

Wenn er künftig die größte Fraktion im Parlament stellt, ist das ein historisches Ereignis. Aber man sollte es als Signal nicht überbewerten. Denn er wird Umfragen zufolge höchstens 20 Prozent erreichen. Dem stehen 80 Prozent gegenüber.

Dennoch wird man wohl denken: Zuerst Trump und jetzt auch in den Niederlanden. Aber ob das der AfD oder dem Front National tatsächlich Aufwind gibt? Dazu sind die Ausgangslagen in den Ländern doch zu verschieden.

Die Strategie der etablierten Parteien ist, nicht mit Wilders zu koalieren und ihn dadurch zu verhindern - auch wenn seine Partei stärkste Kraft im Parlament wird. Kann das funktionieren?

Ich denke, das ist die einzige richtige Methode. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass eine Zusammenarbeit mit Wilders nicht möglich ist, da er keine Verantwortung oder unliebsame Entscheidungen wie beispielsweise Sparmaßnahmen übernehmen möchte. Außerdem hat er keine Leute, die als Minister taugen würden. Die PVV ist ja keine richtige Partei, es ist eine Ein-Mann-Bewegung. Es gibt nur ein Mitglied und das ist Geert Wilders.

Auch wenn der jetzige rechtsliberale Regierungschef Mark Rutte nicht mit ihm zusammenarbeiten möchte, er hat sich zuletzt um Wilders-Wähler bemüht und gesagt, Migranten müssten sich "normal verhalten oder das Land verlassen". Wie haben die Niederländer das aufgenommen?

Die Reaktionen waren gemischt. In der politischen Mitte und links davon wurde es aber als billige Anbiederung an Wilders deutlich kritisiert.

Die Umfragen lassen schwierige Koalitionsverhandlungen vermuten. Wie könnte die nächste Regierung aussehen?

Ich nehme an, dass Mark Rutte Ministerpräsident bleibt. Momentan liegt er bei etwa 20 Prozent. Fünf weitere Parteien liegen bei ungefähr 10 Prozent. Und dann gibt es noch Parteien, die deutlich darunter bleiben werden, aber trotzdem ins Parlament kommen, weil die Niederlande nur eine Wahlhürde von 0,67 Prozent haben. Das heißt, Rutte bräuchte für eine Regierung noch drei andere Partner. Das ist schwierig, wäre aber auch nicht untypisch für die Niederlande - eine Zwei-Parteien-Koalition ist da eher selten.

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