Als die niederländische Regierung im November Tempo 100 auf Autobahnen ankündigte, bekam sie viel Lob, gerade aus Deutschland. Doch es war nicht ökologische Vernunft, die die Politiker lenkte, sondern Verzweiflung. Der Schritt ist die Folge einer Umweltkrise, die zu einer politischen Krise geworden ist.
Man sieht die Symptome dieser Krise in De Peel, einem Moor im Südosten des Landes. Wenn dieses uralte Feuchtgebiet noch intakt wäre, sähe es ganz anders aus. Es gäbe kaum Birken, Farne, hohe Gräser. Stattdessen wüchsen Torfmoos, Heidekraut, Sonnentau oder Wollgras - Pflanzen, die auf nährstoffarmen Böden gedeihen. Doch Nährstoff hat diese Region viel zu viel.
Woran das liegt, erklärt der Naturschützer Wim van Opbergen, 64, ein schlanker, großgewachsener Mann, auf einer Fahrt mit seinem alten Renault. An den Straßen entlang der Grenze zwischen den Provinzen Limburg und Nordbrabant reiht sich ein Bauernhof an den nächsten. In den flachen Klinkerställen werden Schweine gehalten. Viele Schweine. Nirgendwo in Europa ist die Schweinedichte höher: mehr als 2000 pro Quadratkilometer. Die Tiere produzieren Gülle voller Stickstoff aus Ammoniak (NH₃), der über die Luft auf die Böden ringsum gelangt. So erhält die unter Naturschutz stehende Moorlandschaft De Peel viermal mehr Stickstoff als sie verträgt. "Grüne Wüste" nennt van Opbergen diese Schweinebauern-Gegend.
Zu viel Gift
Reaktiver Stickstoff ist kein Gift, sondern Baustein unseres Lebens. Problematisch wird er, wenn es zu viel davon gibt. Etwa durch Landwirtschaft, die für 60 bis 70 Prozent der Einträge verantwortlich ist, oder Verkehr, in Form von Stickoxid, NOx. Dann geraten Kreisläufe durcheinander, leiden Ökosysteme, Wasser- und Luftqualität sinken, die Biodiversität nimmt ab.
Der Zusammenhang ist bekannt. Fast ein Dutzend EU-Gesetze zielen auf eine Senkung der Stickstoff-Emissionen ab. Sie sind auch gesunken, nur nicht genug. Und schon gar nicht in den Niederlanden. Deren Bevölkerungsdichte ist doppelt so hoch wie die deutsche, man betreibt hochintensiv Landwirtschaft, fast jeder Quadratmeter wird genutzt. Es gibt nur wenige geschützte Flächen, und die sind bedroht.
Das Problem hat sich nun zugespitzt. Im Mai erklärte der Staatsrat, die höchste Verwaltungsrechtsinstanz, die niederländische Stickstoff-Politik für unzulässig. Die "Stickstoffkrise" begann. Die Regierung geriet in Bedrängnis: Sie musste die Gesamtemissionen möglichst kurzfristig senken, weil sonst die Bautätigkeit im Land, bei der ebenfalls Stickstoff freigesetzt wird, zum Erliegen gekommen wäre. Keine der für 2020 versprochenen 75 000 Wohnungen hätte gebaut werden können, Straßen- und Deichbau wären gestoppt worden, Tausende hätten ihren Job verloren.
Die Erklärung für das Dilemma ist kompliziert: Für alle Aktivitäten, bei denen Stickstoff emittiert wird - ob Tierhaltung, Wohnungs-, Straßen- oder Deichbau -, müssen schon seit Jahren Genehmigungen beantragt werden. Das fließt in ein Verrechnungssystem ein. Um nicht höhere Emissionen zu bekommen, musste ein Ausgleich her für die Stickoxide, die 2020 im Baugewerbe anfallen. Am Ende sah die Regierung keinen anderen Ausweg, als Tempo 100 zu erlassen, was exakt die benötigten 0,3 Prozent weniger Stickstoff einbringt. Ein spektakulärer Schritt für die rechtsliberale VVD von Premier Mark Rutte, die als Autofahrerpartei gilt und das Limit erst 2012 von 120 auf 130 erhöht hatte.
Wegen Luftverschmutzung:Niederlande führen Tempo 100 auf Autobahnen ein
Das sei eine "beschissene" Idee, meint Premierminister Rutte. Doch ein Urteil zur "Stickstoffkrise" habe ihm keine Wahl gelassen.
"Komplexer als die Migrationskrise"
Eine solche Krise habe er in den neun Jahren seiner Amtszeit noch nicht erlebt, klagte Rutte. Sie sei viel komplexer als die Migrationskrise von 2015/16. Das mag übertrieben sein. Doch könnte, was die Niederlande erleben, Beispiel sein für künftige ökologische Krisen, die Behörden überfordern. In Deutschland kämpft man mit dem Gehalt von Nitrat (NO₃-) im Wasser; das Stickstoff-Problem ist nur deshalb nicht so akut, weil das Land mehr Platz hat.
Wim van Opbergen beschäftigt sich seit fast 40 Jahren mit dem Thema, so lange ist er bei der Umweltschutzgruppe Behoud de Peel (Schützt de Peel). Seine Hauptarbeit: Einspruch einlegen gegen die Vergabe von Stickstofflizenzen. Behoud de Peel hat versucht, die Viehwirtschaft vor allem in direkter Nähe zu dem Schutzgebiet zu stoppen. Man pochte schlicht auf Befolgung der europäischen und nationalen Gesetze zum Schutz von Pflanzen, Tieren, Wasser, Luft.
In seinem kleinen Büro in Deurne erzählt van Opbergen die traurige Geschichte vom Kampf seiner Gruppe gegen Ammoniak. Sie zeugt von der eklatanten Unfähigkeit der Behörden, dem Drängen der Bauern, mehr Tiere zu halten, zu widerstehen. Ein ums andere Mal wurden Reduktionsziele abgeschwächt oder umgangen. Dagegen wehrten sich Behoud de Peel und andere, bis hinauf zum Staatsrat. Oft mit Erfolg.
Im Mai urteilten die höchsten Richter nun erstmals grundsätzlich über den Umgang mit Stickstoff. Dabei werden Lizenzen erteilt im Vorgriff auf geplante - oft aber ausbleibende - Emissionssenkungen. Das sei unzulässig, so die Richter. Die Folgen des Urteils dämmerten der Öffentlichkeit Wochen später, als plötzlich die Angst umging, das Land könne komplett blockiert werden. Da sah Tjeerd de Groot seine Chance. Der Abgeordnete der sozialliberalen Regierungspartei D66 forderte, den Viehbestand mindestens zu halbieren, und zwar schnell. Das wäre zweifellos die beste Anti-Stickstoff-Maßnahme - auch wenn das Problem eigentlich übernational gelöst werden müsste, denn ein Drittel der niederländischen Stickstoff-Einträge regnet aus dem Ausland herüber, vor allem aus Deutschland und Belgien.
Die Landwirte schrien auf. Eben noch als Leistungsträger umjubelt, fühlten sie sich nun als Buhmänner verunglimpft. Zehntausende Wut-Bauern zogen mit ihren Traktoren nach Den Haag, stürmten in Groningen den Sitz der Provinzregierung. Agrarministerin Carola Schouten versprach, mit ihr werde es keine Vieh-Halbierung geben. Ansonsten blieb sie vage.
Viehbestand halbieren?
Tjeerd de Groot hingegen hat einen Plan. Er wolle eine "Revolution" der Landwirtschaft, sagt er. Dafür hat sich der Agrarexperte 2017 ins Parlament wählen lassen. "Die Politik reguliert zu wenig und zu spät. Sie schafft es nicht einzugreifen, während die Bauern sauer sind wegen immer neuer Vorschriften." Vier von zehn Bauern wollen aufhören, ihnen müsse man finanziell helfen. Ebenso aber jenen, die weitermachten und Teil einer "Kreislauflandwirtschaft" werden sollen: mit weniger intensiver Tierhaltung, ohne das energiereiche, Stickstoff importierende Futter aus dem Ausland, mit Ställen, in denen Mist und Urin getrennt würden. So lasse sich "mit weniger Tieren mehr verdienen".
Bei der grün-linken Opposition hört sich das ähnlich an. Die Niederlande, nach den USA zweitgrößter Agrarexporteur, seien führend bei Saatgut, der Veredelung von Agrarprodukten oder der Treibhaustechnik, sagt die Abgeordnete Laura Bromet. "Aber beim Fleischexport aus Massenproduktion sind wir wegen der hohen Kosten nicht konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt." Diesen Unterbietungswettlauf könnten die Bauern nur verlieren.
Eigentlich ist die Agrarwende längst Regierungspolitik. Kreislauflandwirtschaft, nachhaltige Tierhaltung, lokal hergestelltes Futter - all das steht in einer neuen "Vision" des Agrarministeriums. Warum wurde fast nichts umgesetzt? Wohl auch, weil die anderen Regierungsparteien - Rechtsliberale, Christdemokraten und die kleine Christen-Union - sehr empfänglich sind für die Argumente der Bauern, obwohl diese keine zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. "Die Lobby der Landwirte ist noch immer viel zu mächtig", sagt Valentijn Wösten, ein Anwalt, der für Umweltverbände arbeitet. Es sei "conditio sine qua non, diese Lobby zu brechen".
Mitte Dezember will Ministerin Schouten einen Krisenplan präsentieren. Man werde, verrät ihr Sprecher, Bauern entschädigen, die freiwillig den Tierbestand reduzieren. Daneben setzt die Regierung auf Umsiedlung und "technische Lösungen". Ein Berater des Ministeriums, Martin Scholten von der Universität Wageningen, glaubt, dass die Emissionen durch Stall-Innovationen um "80 bis 90 Prozent" gesenkt werden könnten - mit derselben Menge Tiere. Wösten macht das wütend. "Man versucht das seit 30 Jahren, die Technik ist ausgereizt", sagt er. "Gäbe es solche Lösungen, würden sie längst eingesetzt."
Wie Wösten sieht auch Wim van Opbergen nur eine Möglichkeit, die Umwelt zu retten: "weniger Tiere". In De Peel hat seine Gruppe viel getan: Tausende Bäume gefällt, Farne gerupft, Entwässerungsgräben zugeschüttet. Zum Ende des Moorspaziergangs bleibt er an einer grünen Stelle stehen. Hier hat sich wieder Torfmoos gebildet, ein Zeichen der Hoffnung. Wenn nur die weißen Flecken darauf nicht wären. Es ist Schimmel. Die Ursache: Stickstoff.