Süddeutsche Zeitung

Sterbehilfe in den Niederlanden:Mehr Sicherheit für Ärzte, mehr Würde für die Patienten

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Von Thomas Kirchner, München

Das erste höchstrichterliche Urteil zur Sterbehilfe in den Niederlanden hat die seit 2002 geltende äußerst liberale Regelung des Landes entscheidend bestärkt und den ausführenden Ärzten mehr Rechtssicherheit verschafft. Der Hohe Rat, die höchste zivil- und strafrechtliche Instanz, bekräftigte am Dienstag das Urteil eines Gerichts, wonach sich eine Ärztin, die einer stark dementen Patientin unter umstritten Umständen in den Tod geholfen hatte, nicht strafbar machte. Die gesetzlich vorgeschriebenen Sorgfaltspflichten seien vollumfänglich eingehalten worden, hielt das Gericht fest. Auch die Verwarnung der Ärztin durch eine Disziplinarkommission wurde für nichtig erklärt.

Der Fall betraf eine Frau, die an Alzheimer litt, einer Krankheit, die in ihrer Familie erblich war. Kurz nachdem dies 2012 bei ihr diagnostiziert worden war, erklärte sie schriftlich ihren Wunsch, im Falle einer starken Verschlechterung ihrer Lage nicht in eine Einrichtung aufgenommen zu werden, sondern Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu wollen. 2016 führte eine Ärztin in einer Pflegeeinrichtung die Sterbehilfe aus, ohne noch einmal mit der Patientin darüber zu sprechen. Die Patientin, die unruhig war und sich auch zu wehren schien, bekam ohne ihr Wissen Beruhigungsmittel. Zu ihrem Todeswunsch hatte sie sich zuletzt wirr und widersprüchlich geäußert.

Die Staatsanwaltschaft hatte der Ärztin Mord vorgeworfen und verwies unter anderem auf das fehlende abermalige Gespräch mit der Patientin. Ein Gericht in Den Haag sprach die Ärztin jedoch frei. Ein weiteres Gespräch sei unnötig gewesen, weil die Patientin sich nicht mehr kohärent habe äußern können. Es hätte ihre Unruhe noch verstärkt. Insgesamt habe die Ärztin die Sterbehilfe "so angenehm wie möglich" verabreicht. Alle Sorgfaltspflichten, die das Gesetz vorschreibt, seien eingehalten worden. Demnach ist Sterbehilfe dann straffrei, wenn die Patienten unerträglich und aussichtslos leiden, wenn sie freiwillig, wohlerwogen und gut informiert um Sterbehilfe gebeten haben. Mindestens ein weiterer unabhängiger Arzt muss ihre Lage beurteilen, und die Sterbehilfe muss medizinisch sorgfältig geleistet werden.

Das Verfahren wird stark beachtet, weil es der erste Strafrechtsprozess zur Sterbehilfe überhaupt ist. Er betrifft nicht zufällig die heikelste Form von Sterbehilfe, jene an geistig erkrankten Menschen. Sie ist auch in Belgien zulässig. Dabei kommt es regelmäßig zu schwierigen Abwägungsfragen, die vom Gesetz nicht explizit angesprochen werden. Zwar üben regionale Aufsichtskommissionen gelegentlich Kritik an Sterbehilfefällen, doch hat die Justiz dies erst in jüngster Zeit aufgenommen. Ein Generalstaatsanwalt hatte nach dem Urteil vom September 2019 Berufung eingelegt, um die Rechtslage klären zu lassen. Es sei hohe Zeit für eine höchstrichterliche Betrachtung, erklärte er.

Das "frühere Selbst" wacht über die Belange des "jetzigen Selbst"

Wie schon der Generalstaatsanwalt in einem Gutachten hob der Hohe Rat auf die noch bei klarem Bewusstsein abgelegte schriftliche Willenserklärung als wichtigstes Element beim Sterbehilfewunsch ab. Darin müsse die Situation, sich später vielleicht nicht mehr klar äußern zu können, ausdrücklich erwähnt sein. Der Arzt müsse sich darauf einstellen, dass der Patient gerade infolge der fortgeschrittenen Demenz "irrational oder unvorhersehbar" handeln könne, und müsse gegebenenfalls Beruhigungsmittel oder Ähnliches verabreichen dürfen. Allerdings, so der Hohe Rat, könne auch der Fall eintreten, dass man dem in der Patientenverfügung geäußerten Wunsch nicht folgen sollte. Letztlich sei es Aufgabe der Ärzte, die angemessene Interpretation zu liefern. Hier seien "immer sehr schwierige Abwägungen zu treffen, deren Ergebnis niemals selbstverständlich sind". Zentral sei aber jeweils die Frage, ob die Sorgfaltspflichten eingehalten wurden.

Das sehr ausführliche Gutachten des Generalstaatsanwalts liegt dem Urteil des Hohen Rats als nähere Ausführung bei. Es stützt sich auf das Konzept der "precedent autonomy" bei Dementen. Es geht von einer Kontinuität der Persönlichkeit aus, wobei jene Phase, in welcher der Patient noch bei vollerem Verstand ist, den Vorrang erhält hinsichtlich der Beurteilung seines Schicksals. Das "frühere Selbst" wache über die Belange des "gegenwärtigen Selbst". Auf diese Weise könnten Menschen ihre "kritischen Interessen", ihre Identität und die von ihnen bevorzugte Lebensgeschichte bestmöglich in eine Form bringen. Auch könne ein Mensch auf diese Weise am ehesten vermeiden, in eine Lage zu geraten, die absehbar aussichtsloses Leiden für ihn bedeute. Der Gesetzgeber lasse dem Arzt einen "Beurteilungsspielraum", um den schriftlich geäußerten Wunsch nach Sterbehilfe zu interpretieren.

In Deutschland hatte kürzlich das Bundesverfassungsgericht eine Neuregelung der Sterbehilfe ermöglicht. Die Richter betonten dabei das Recht jedes Einzelnen auf ein selbstbestimmtes Sterben. Das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen, hieß es in dem Urteil vom Februar.

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SZ vom 22.04.2020
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