Niederlande:Zangengeburt nach 271 Tagen

Lesezeit: 3 Min.

Die neue alte Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte steht. (Foto: Phil Nijhuis/AFP)

Der geschäftsführende Premier Mark Rutte wird erneut eine Regierung bilden. Wie lange kann sie halten?

Von Thomas Kirchner, München

Der Satz des amtierenden Finanzministers Wopke Hoekstra war bezeichnend. "Es hat etwas von einer Zangengeburt", sagte der Christendemokrat (CDA) am Montagabend, als sich die Unterhändler endlich auf einen Koalitionsvertrag verständigt hatten. Neun Monate nach der Parlamentswahl im März bekommen die Niederlande eine neue Regierung, wieder unter Führung von Ministerpräsident Mark Rutte. Die Gespräche waren extrem schwierig, standen mehrmals vor dem Scheitern und dauerten mit 271 Tagen länger als je zuvor. Und dies, obwohl es dieselben Parteien wie bisher wieder miteinander versuchen wollen: Ruttes rechtsliberale VVD, die linksliberalen D66, der CDA und die kleine Christenunion.

Jubel ist nicht zu vernehmen in Den Haag, eher Erleichterung, dass die von vielen als quälend empfundene Verlobungszeit vorüber ist. Rutte sprach von einem "guten" Abkommen, D66-Chefin Sigrid Kaag von einem "sehr ausgewogenen". Veröffentlicht ist der Text noch nicht, er wurde am Dienstag in den Parteigremien besprochen und könnte noch leicht verändert werden. Aus einer Vorversion, die ein Verhandler im Zug hatte liegen lassen, ging aber hervor, dass viel Geld vor allem in den Klimaschutz und in den Wohnungsbau fließen soll. Kinder werden künftig wohl weitgehend gratis betreut werden, die erst 2015 eingeführten Studenten-Darlehen wird die Koalition vermutlich abschaffen.

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Das neue alte Viererbündnis will den Vertrag am Mittwoch dem Parlament vorstellen, am Donnerstag folgt eine Debatte. Über die Feiertage müsste Rutte seine Ministerriege zusammenstellen und könnte dann voraussichtlich in der zweiten Januarwoche für seine vierte Amtszeit seit 2010 vereidigt werden. Im Januar war er mit seinem Kabinett wegen eines Kindergeldskandals kollektiv zurückgetreten, aus der anschließenden Wahl jedoch als Sieger hervorgegangen. Die D66 kamen auf Platz zwei.

Die Gespräche über eine Regierungsbildung wurden schnell überschattet durch eine Lüge, bei der Rutte ertappt wurde: Er hatte versucht, sich eines unbequemen Abgeordneten zu entledigen, gab dies aber trotz eines schriftlichen Beweises nicht zu. Das hätte Rutte fast die politische Karriere gekostet. Seine wichtigste Partnerin Kaag ließ ihn zwar am Ende nicht fallen, doch gilt das Verhältnis der beiden seither als reserviert. Kaag drängt auf eine "neue Regierungskultur", die Rutte in den vergangenen Monaten nicht erkennen ließ. Kaag sprach am Montag vage von einer "anderen Einstellung, anderen Zusammenarbeit, einem anderen Ton in der Debatte" und versprach, dass die Rolle des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt werde.

Eine Informationsblockade seitens des Kabinetts gilt als wichtiger Grund für das fundamentale politische Versagen im Zusammenhang mit dem Kindergeldskandal. Unter anderem wegen kleiner Formfehler hatten die Steuerbehörden jahrelang Hilfsleistungen von Zehntausenden Familien zurückgefordert und sie damit zum Teil in schwere Not gestürzt. Aufklärungsversuche einzelner Abgeordneter wussten Rutte und seine Minister zu verhindern. Mit den Details wird sich demnächst ein Untersuchungsausschuss befassen.

Drei Untersuchungsausschüsse belasten die Regierung

Aber das ist nicht die einzige Hypothek, die auf der Regierung Rutte IV lastet. Ein weiterer Ausschuss wird die Folgen der Erdgasförderung in der nördlichen Provinz Groningen untersuchen. Kritiker werfen der Regierung vor, zu spät reagiert und die von Erdbeben betroffenen Hausbesitzer ungenügend entschädigt zu haben. Die Gasförderung in Groningen wurde zuletzt stark gedrosselt und soll im kommenden Jahr ganz eingestellt werden. Dadurch könnte ein weiteres Problem entstehen: Zurzeit enthalten die niederländischen Gasspeicher 25 Prozent weniger Reserven als in früheren Jahren. Experten warnen vor einem Engpass, sollte es richtig kalt werden.

Ein dritter Ausschuss muss die Corona-Politik unter Rutte aufarbeiten. Sie steht inzwischen schwerer in der Kritik. Im Land setzt sich mehr und mehr die Auffassung durch, dass Rutte und sein oberster Berater Jaap van Dissel seit Beginn der Pandemie durchgehend zu zögerlich und zu spät reagierten. Laut einer aktuellen Umfrage befürworten nur noch 16 Prozent der Bevölkerung den Corona-Kurs der Regierung. Am Dienstagabend verkündete Rutte angesichts weiterhin bedrohlich hoher Infektionszahlen eine Verlängerung der nächtlichen Ausgangssperre bis Mitte Januar und vorgezogene Weihnachtsferien für Grundschulkinder.

Alle die Schwierigkeiten lassen Beobachter vermuten, dass diese Koalition keine volle Legislaturperiode durchhalten kann. Der seit 2010 regierende Rutte werde wohl versuchen, sich zumindest so lange zu halten, dass er der Premier mit der längsten Amtszeit wäre. Den Rekordhalter Ruud Lubbers (4309 Tage) hätte er im Oktober 2022 eingeholt.

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