Niederlande:Keine Regierung in Sicht

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Mark Rutte, Premierminister, nach Verhandlungen mit der Chefin der Partei D66, Sigrid Kaag, in Den Haag. (Foto: Robin van Lonkhuijsen/AFP)

Mehr als 150 Tage nach der Wahl tun sich die Parteien schwer, ein neues Kabinett zu bilden. Sie blockieren sich weiterhin gegenseitig - trotz aller gegenwärtigen Krisen.

Von Thomas Kirchner, München

Schnell geht es nie bei der Regierungsbildung in den Niederlanden, und manchmal dauert es auch sehr lange. Beim letzten Mal, 2017, verstrichen 225 Tage, bis das Parteienbündnis gezimmert werden konnte, das kommissarisch noch immer regiert. Wenn sie sich nicht bald zusammenraufen, könnten die niederländischen Parteien diesen zweifelhaften Rekord schon Ende Oktober einstellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen das gelingt, ist hoch.

Denn das Tempo, das sie vorlegen, und der Fortschritt, den sie erzielt haben, sind niedrig. Das zeigte sich zu Beginn dieser Woche, als die Vertreter von sechs in Frage kommenden Parteien nach langer Pause mal wieder miteinander redeten und im Wesentlichen zu keinem Ergebnis kamen. Die "Sondiererin" Mariëtte Hamers, eine Sozialdemokratin, die den Gesprächsprozess organisiert, hatte ihnen zuvor drei Wochen Urlaub gewährt. In dieser Zeit sollten, so Hamers' Auftrag, Mark Rutte und Sigrid Kaag schon mal eine Art Koalitionsvertrag entwerfen, der die ungefähre inhaltliche Richtung vorgibt. Rutte führt die rechtsliberale VVD an, den deutlichen Gewinner der Wahl im März, Kaag die linksliberale D66, die auf den zweiten Rang kam.

Dieser für die Öffentlichkeit noch geheime Text liegt seit Dienstag vor. Die anderen Parteiführer entdeckten akzeptable und weniger akzeptable Punkte darin, legten sich aber nicht weiter fest. So hat sich an der Ausgangslage im Prinzip nichts verändert: Gesetzt für die Koalition sind VVD und D66, die sich als "Motorblock" verstehen, aber weit entfernt von einer Mehrheit sind. Möglich wäre einerseits eine Fortsetzung des Bündnisses mit den bisherigen Partnern Christdemokraten (CDA) und der kleinen Christen-Union (CU). Das ist die von Rutte und dem CDA favorisierte Lösung. Kaag andererseits würde lieber "über links" regieren und statt der Christen-Union die Sozialdemokraten (PvdA) und die Grünen ins Boot holen.

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Beide Optionen sind nach jetzigem Stand aber ausgeschlossen, und zwar durch eine doppelte Blockade. Zum einen schließen Rutte und der CDA aus, mit PvdA und Grünen zu regieren, die nur im Doppelpack auftreten wollen. Zum anderen sperrt sich Kaags D66 wegen großer inhaltlicher Differenzen, etwa beim Thema Sterbehilfe, gegen die strenggläubige Christen-Union. Dass Kaag diese Position soeben per Interview wiederholte, irritierte CU-Chef Gert-Jan Segers extrem. Offenbar wolle man seine Partei nicht dabeihaben, sagte er beleidigt - eine Reaktion, die Kaag vermutlich bewusst provoziert hatte.

So treten die Spitzenpolitiker auf der Stelle, zum Unmut des Publikums, das angesichts der krisenhaften politischen Gesamtlage gerne eine voll funktionsfähige Regierung hätte. Dringend zu klären wäre unter anderem, wie das Land die etwa sechs Milliarden Euro ausgeben will, die ihm aus dem Wiederaufbaufonds der EU zustehen.

Rutte hat wohl auf eine Verzögerungstaktik gesetzt

Rutte aber, so der zu hörende Verdacht, sei an einem flotteren Tempo gar nicht interessiert, schließlich regiere er ja, wenn auch nur geschäftsführend, also mit beschränkten Kompetenzen. Ihm sei vielmehr daran gelegen, zunächst möglichst viel Gras über die Skandale wachsen zu lassen, die auf die Wahl im März folgten und seine persönliche Integrität gravierend infrage stellten. Um Ostern herum hatte er die Öffentlichkeit über seinen Versuch belogen, einen unbequem kritischen Parlamentarier, den CDA-Politiker Pieter Omtzigt, per Weglobung aus dem Feld zu räumen. Als dies bekannt wurde, sprachen ihm die gesamte Opposition einschließlich PvdA und Grüne das Misstrauen aus. Um Ruttes politische Karriere war es nur deshalb nicht geschehen, weil ihn Kaag trotz weit hochgezogener Brauen nicht fallen ließ. Auch wollen die Mitte-Parteien unbedingt eine Neuwahl vermeiden, die wohl vor allem Extremisten auf der politischen Rechten stärken würde.

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Bisher schien diese Verzögerungstaktik aufzugehen, zumal die neuesten Wirtschaftsdaten der amtierenden Regierung nützen: Demnach stieg das Bruttoinlandsprodukt zwischen April und Juni um mehr als drei Prozent, doppelt so viel wie das deutsche. Durch einen weiteren schweren Einschätzungsfehler in der Corona-Politik hat das Kabinett aber erneut viel Vertrauen verspielt. Nach einer zu frühen und kaum kontrollierten Öffnung von Kneipen und Diskotheken schossen jüngst die Infektionszahlen in die Höhe. Rutte entschuldigte sich. Die Quittung ist verbreiteter Unmut, links wie rechts, geäußert etwa unter dem zeitweilig populären Twitter-Hashtag #kutland (Scheißland).

Und dann lauert da noch das Problem Omtzigt. Ruttes schärfster Rivale, inzwischen aus dem CDA ausgetreten, erholt sich gerade von einem Burn-out. Ende September kehrt er zurück auf die Bühne: mit einer Rede in Amsterdam.

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