Süddeutsche Zeitung

Niederlande:Regierungsbildung in der Sackgasse

Seit fast 100 Tagen verhandeln die Parteien vergebens über eine neue Koalition unter Führung des geschäftsführenden Premiers Mark Rutte. Der lässt sich Zeit - aus taktischen Gründen.

Von Thomas Kirchner

Die Niederländer sind schwierige Regierungsbildungen gewohnt. Schnell geht es nie, und 2017 dauerte es gar rekordlange sieben Monate, bis Mark Rutte sein drittes Kabinett beisammen hatte. Doch noch nie in der jüngeren Geschichte des Landes war die Suche nach einer neuen Koalition von so viel Unlust und Verdruss begleitet wie diesmal.

Knapp hundert Tage nach der Wahl vom 17. März stecken die Parteien fest. Ein Durchbruch vor der parlamentarischen Sommerpause am 9. Juli wird immer unwahrscheinlicher. Und weil die Regierung Rutte nach einem kollektiven Rücktritt schon seit Januar nur noch geschäftsführend im Amt ist, treibt das Land politisch vor sich hin.

Eigentlich ist die Ausgangslage übersichtlich. Rutte war klarer Wahlsieger, seine rechtsliberale VVD erhielt 22 Prozent der Stimmen. Fünf der insgesamt 19 Formationen im Parlament sind willens, mit ihm zu kooperieren: Christdemokraten (CDA) und Linksliberale (D66), die schon der bisherigen Regierung angehörten, sowie auf der Linken die Sozialdemokraten (PvdA) und die Grünen. Möglicherweise könnte sich auch die kleine Christen-Union (CU) wieder an der Regierung beteiligen. Die Animositäten zwischen diesen Parteien sind jedoch stark.

VVD und CDA wären bereit, mit Sozialdemokraten oder Grünen zu koalieren, was zu einer Mehrheit reichen würde. Keinesfalls wollen sie mit beiden zusammen regieren, worauf die linken Parteiführer aber bestehen. Die Linksliberalen wiederum wollen aus ideologischen Gründen nicht erneut mit der Christen-Union ins Boot, die ohnehin nur in der größten Not mitregieren möchte.

Über allem schweben zusätzliche Schwierigkeiten. Zum einen die missliche Lage beim CDA, der nach dem Austritt des Rebellen Pieter Omtzigt von beträchtlichem Wählerschwund und einer Spaltung bedroht ist. Die Partei täte nach Ansicht mancher Mitglieder besser daran, sich in der Opposition neu zu sortieren. Omtzigt sitzt noch krank zu Hause, was nach seiner Genesung und Rückkehr passiert, ist völlig offen.

Zum anderen ist es Rutte bisher nicht gelungen, das Vertrauen zurückzugewinnen, das er nach der Wahl verloren hat. Um Ostern herum hatte er Öffentlichkeit und Parlament über seinen Versuch belogen, den "unbequemen" Abgeordneten Omtzigt aus dem Weg zu räumen. PvdA und Grüne hatten ihm deshalb das Misstrauen ausgesprochen. Zusätzlich wird dem Premier eine Kultur der Unmenschlichkeit und des behördlichen Kontrollwahns angelastet, die unter anderem die Kinderzuschlagaffäre begünstigte. Diese war Grund für den Rücktritt des Kabinetts im Januar und ist noch längst nicht aufgearbeitet. Für Rutte wäre sie, bliebe er Premier, eine schwere Hypothek.

Ein weiteres Problem ist formaler Natur. Es gibt niemanden, der bei einer komplizierten Regierungsbildung die politische Verantwortung übernehmen und einen neuen Ansatz wagen könnte. Früher war die Regierolle dem Königshaus zugekommen, das im Hintergrund die Fäden zog, etwa durch die Wahl der Unterhändler oder einen informellen Regierungsauftrag. Seit 2012 kümmert sich das Parlament selbst um die Koalitionsbildung, mit dem Wahlsieger an der Spitze. Doch Rutte lässt sich aus taktischen Gründen Zeit und wartet offenbar ab, bis seine potenziellen Partner die Nerven verlieren.

Rutte will eine "neue Regierungskultur" etablieren

Als "Sondiererin" beauftragt mit den Gesprächen zur Regierungsbildung ist derzeit Mariëtte Hamer, die die Spitzenpolitiker seit Wochen zu sich bittet. Die Parteien seien in einer "Sackgasse", sagte die Sozialdemokratin am Wochenende. Öl ins Feuer goss CDA-Spitzenmann Wopke Hoekstra mit der Bemerkung, eine Koalition mit den beiden Linksparteien missfalle ihm genauso wie ein Bündnis mit den Rechtsaußen-Politikern Geert Wilders und Thierry Baudet.

Am Dienstag präsentierte Hamer dem Parlament einen Zwischenbericht. Als Lösung empfiehlt sie, dass Rutte und die D66-Chefin Sigrid Kaag zusammen eine Regierungsvereinbarung formulieren. Mitte August solle dann ernsthaft verhandelt werden. Entweder schließen sich andere Parteien an, oder es kommt zu einem Minderheitskabinett. Kaag hatte sich nach der Lügen-Affäre von Rutte distanziert, akzeptiert inzwischen aber seine Beteuerung, eine "neue Regierungskultur" etablieren zu wollen. Vordringlich zu klären wäre zwischen beiden, wie die Stickstoffkrise gelöst werden kann. D66 drängt darauf, den Bestand der Nutztiere deutlich zu reduzieren. Bei zu hohen Stickstoffeinträgen drohen etwa Blockaden beim Wohnungsbau. Ein Beschluss müsste in den neuen Haushalt einfließen, der nach der Sommerpause erstellt wird.

Daneben stehen andere wichtige Entscheidungen an, um das Land aus der Corona-Krise zu führen. Sie zu treffen ist die geschäftsführende Regierung aber nicht befugt. So bleibt auch offen, was die Niederlande mit den etwa sechs Milliarden Euro aus dem Recovery Fund der EU anstellen wollen. Den von Brüssel gewünschten Verwendungsplan wird Den Haag vorerst nicht einsenden können.

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