Sie haben es noch einmal hinbekommen. Das seit Juli amtierende niederländische Kabinett, das schon im Oktober wegen der Asylpolitik gewackelt hatte, befand sich am Freitagabend abermals in Not. Wieder gelang es den Anführern der Koalitionsparteien, den Bruch zu verhindern, vorerst kann es also weitergehen. Die Art, wie sie das schafften, in einem Akt mehrfacher Selbstverleugnung, sagt aber einiges aus über die Funktionsweise einer Regierung, in der der populistische Islamkritiker Geert Wilders den Ton angibt.
Auslöser der Krise waren die Nachwehen der antisemitischen Ausschreitungen rund um ein Europa-League-Gastspiel des Tel Aviver Clubs Maccabi in Amsterdam. Dabei waren israelische Fans verfolgt und misshandelt worden von Niederländern mit migrantischem Hintergrund. Wilders und andere rechte Politiker forderten, die Täter aus dem Land zu werfen und ihnen die niederländische Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Premier Dick Schoof muss heikle Fragen beantworten
Anfang der Woche waren die Vorfälle Thema im Kabinett. Dabei fielen von mehreren Seiten offenbar derart heftige Bemerkungen über muslimische Einwanderer, dass es Staatssekretärin Nora Achahbar, die marokkanische Wurzeln hat, nicht mehr aushielt. Ihre zentristische Partei Neuer Sozialvertrag (NSC) hielt die Woche über still, ließ sich auch bei der Parlamentsdebatte zu Amsterdam am Mittwoch nichts anmerken. Am Freitagmittag schließlich verlautete, dass Achahbar, zuständig für Zuschläge und Zölle im Finanzministerium, zurücktreten werde. Dass sie sich über „rassistische Äußerungen“ im Ministerrat ärgere, was von mehreren Quellen bestätigt wurde. Und dass andere NSC-Kabinettsmitglieder denselben Schritt erwägen würden. Am Abend kamen die Fraktionsvorsitzenden der vier Regierungsparteien in der Dienstwohnung von Premier Dick Schoof zu einer Krisensitzung zusammen.
Als Schoof anschließend vor den Medien verkündete, dass man weitermachen werde, sah er sich heiklen Fragen gegenüber. Denn inzwischen waren mutmaßliche Zitate aus der Kabinettssitzung durchgestochen worden. Demnach sagte der rechtsliberale Finanzminister Eelco Heinen etwas über Pickel und Eiter, der ausgedrückt werden müsse. Ein anderer soll behauptet haben, Antisemitismus stecke „in der DNA von Muslimen oder Marokkanern“. Sogar die Begriffe „Scheißmarokkaner“ und „Halalfresser“ wurden genannt. Was denn nun genau gesagt worden sei am Kabinettstisch? Das sei geheim, antwortete Schoof. Auf weiteres Nachbohren wiederholte er automatengleich die Formel: „Es ist und war keine Rede von Rassismus“ im Kabinett. Es könne auch einfach sein, „dass alle diese Aussagen gar nicht gemacht wurden“.
Manche Medien wollen das nicht glauben. Sie haben zusammengestellt, was ganz offiziell von Koalitionspolitikern gesagt wurde. Wilders etwa hat keine Hemmungen, die Amsterdamer Gewalt, die zum Teil auch von israelischen Fans ausgegangen war, einer einzigen Bevölkerungsgruppe zuzuschieben: „Es sind Marokkaner, die das getan haben.“ Der für Integration zuständige rechtsliberale Staatssekretär Jurgen Nobel sagte, dass „ein ziemlich großer Teil der islamistischen jungen Leute unsere Normen und Werte nicht unterschreibt“. Premier Schoof nahm eine „spezifische Gruppe junger Menschen mit Migrationshintergrund“ aufs Korn und sprach von einem „Integrationsproblem“, das gelöst werden müsse. Wohnungsbauministerin Mona Keijzer von der populistischen Bauer-Bürger-Bewegung glaubt, dass „Antisemitismus beinahe ein Teil der islamistischen Kultur“ sei. Ein anderer Staatssekretär lehnt es ab, sich von einer berüchtigten Wilders-Rede zu distanzieren, bei der er 2014 die Menge fragte, ob sie „weniger Marokkaner“ wolle.
Ein Kolumnist der Zeitung De Volkskrant resümiert: „Das gesamte Kabinett ist mit Wilders-Sprache infiziert.“ Die Polarisierung in der Gesellschaft sei kein neues Phänomen, schreibt NRC Handelsblad, neu sei aber, dass ein Kabinett aktiv dazu beitrage, statt dagegen anzugehen.
Wer sich eigentlich dagegenstemmen wollte, ist die Partei NSC, die sich als Hüterin des Rechtsstaats und eines gewissen Anstands versteht. Der Koalition mit der Wilders-Partei PVV war sie nur unter großen Bedenken beigetreten und auch nur, nachdem die PVV-Vertreter versprochen hatten, sich in der Regierung an Geist und Buchstaben der Verfassung zu halten. Doch diesmal hat NSC klein beigegeben, wohl auch, weil Umfragen ihr bei Neuwahlen einen Absturz von bisher 20 auf etwa zwei Parlamentssitze vorhersagen. Als Staatssekretärin Achahbar ihren Rücktritt Freitagnacht offiziell bekannt gab, nannte sie als Grund nur allgemein „polarisierende Umgangsformen in den vergangenen Wochen“. Das Wort „rassistisch“ vermied sie ostentativ, Fragen ließ sie nicht zu.