Niederlande:Der angezählte Favorit

PVV leader Geert Wilders and VVD's Mark Rutte (R) debate during Pauw's election debates on March 11, 2021, in Amsterda

Geert Wilders und Mark Rutte (rechts) beim Fernsehduell.

(Foto: Bart Maat/AFP)

Premier Mark Rutte hat gute Chancen, am Mittwoch zum vierten Mal die Wahl zu gewinnen, obgleich seine Politik in der Pandemie viel Kritik provozierte und er einen Skandal am Hals hat. Hat es sich sein ärgster Rivale Geert Wilders scheint in der Opposition eingerichtet?

Von Thomas Kirchner, München

"Ich bin ein Anführer, Sie sind ein Schwächling, mijnheer Rutte." "Sie verbreiten Lügen und Ausflüchte." "Und Sie laufen immer weg, wenn es schwierig wird, Herr Wilders." Solche Sätze fliegen hin und her, 50 Minuten lang, als sich Mark Rutte und Geert Wilders am Donnerstagabend im Fernsehen duellieren. Der Premierminister und sein schärfster Gegner: Die beiden kennen sich seit Jahrzehnten, waren mal in derselben Partei - und gehen einander noch immer mit Leidenschaft an den Hals.

Ein Spektakel. Nicht nur weil man erfährt, dass Wilders von seinen nationalistischen Mitstreitern intern "der Großschlumpf" genannt wird oder dass Rutte inzwischen nicht mehr allergisch ist gegen die Katze seines Neffen. Sondern weil es dem gewieften Debattierer Wilders gelingt, Rutte, der sich gern als Staatsmann und oberster Manager des Landes präsentiert, aus der Reserve zu locken.

Am Mittwoch wird gewählt in den Niederlanden. Um Stimmen kämpfen die Kandidaten nicht in Hallen oder Bierzelten, sondern vor allem in TV-Studios. Die sind in Pandemie-Zeiten mehr denn je die wichtigste Bühne. Wer auf die Sekunde wacher, faktensicherer, souveräner und angriffslustiger ist als die Konkurrenz, kann viel gewinnen. Die Sender haben sich einiges einfallen lassen, nirgends dürfen die Gäste einfach drauflosquasseln. RTL lud Wutbürger ein, bei Nieuwsuur wurden Politiker von kritischen Fans auf die Probe gestellt, bei Pauw ging es, eins gegen eins, viermal zehn Minuten über selbstgewählte provokante Aussagen. Und es funktioniert. Die Sendungen sind meist nicht nur unterhaltsam, sondern auch informativ.

Wobei das Ergebnis im Wesentlichen schon festzustehen scheint. Umfragen sehen Ruttes rechtsliberale VVD mit großem Abstand in Führung, er kann mit seiner dritten Wiederwahl seit 2010 rechnen. Das ist zweifellos auch dem Virus geschuldet, kurz vor Ausbruch der Pandemie waren seine Werte deutlich schlechter. Rutte, so sehen es wohl die meisten Bürger, hat das Land durch die Krise gelotst, bemüht und stets präsent.

"Teflon-Mark" entzieht sich erfolgreich einem großen Skandal

Dass er zunächst mehr an die Eigenverantwortung der Menschen appellierte, statt ihnen Vorschriften zu machen, wurde als Ausweis holländischer Liberalität, ja Lässigkeit gewürdigt. Kritiker behaupten zwar, Rutte habe die Pandemie unterschätzt und erst spät angesichts verheerender Ansteckungszahlen zu restriktiveren Mitteln gegriffen. Viel mehr Aufmerksamkeit finden jedoch jene, die die Maßnahmen für weit überzogen halten und zuletzt vor Gericht beinahe eine Aufhebung der nächtlichen Ausgangssperre erkämpft hätten.

In den Niederlanden seien "viele Fehler" gemacht worden in der Corona-Politik, urteilt die Politologin und Kolumnistin Catherine de Vries. Aber das sei ja überall so. Erstaunlicher findet sie, wie sich Rutte, Spitzname "Teflon-Mark", bisher aus einem für ihn potenziell sehr bedrohlichen Skandal winden kann: der Kinderzuschlagaffäre. Von 2012 an forderten die Steuerbehörden zu Unrecht von Tausenden Eltern zum Teil Zehntausende Euro zurück und ruinierten damit Existenzen. Vor allem Migranten standen unter Generalverdacht, den Staat nur ausnehmen zu wollen. Nach einem verheerenden Untersuchungsbericht trat zwar im Januar die gesamte Regierung zurück und ist nur noch kommissarisch im Amt. Die Karriere gekostet hat das allerdings bisher nur einen Parteifreund Ruttes und den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten.

Dabei kommt Rutte die zweifelhafte Ehre zu, diese Verdachtskultur mit eingebautem Rassismus quasi erfunden zu haben. Schon 2003 wies er, damals als Staatssekretär, lokale Behörden an, vor allem bei Somaliern genauer hinzusehen. In der Kinderzuschlagaffäre sei keinesfalls, wie Rutte und andere behaupten, etwas "schiefgegangen", schrieb der Maastrichter Historiker Mathieu Segers in einem viel beachteten Artikel. Dieser Skandal habe vielmehr Methode, und der Premier stehe wie kein anderer für das zugrunde liegende Menschenbild: "Es ist etwas faul in den Niederlanden. Und diese Fäulnis sitzt tief, denn sie ist kulturell bedingt."

Eine zweite Untersuchungskommission wird die Affäre in der kommenden Legislaturperiode abermals beleuchten, und es sei zu erwarten, meint der Kolumnist Bert Wagendorp, dass Rutte dann auch bald abtrete. Vorerst aber steht nur die Frage im Raum, mit welchen Partnern der 54-Jährige seine vierte Koalitionsregierung schmieden wird.

Juristen halten Wilders' Programm in Teilen für verfassungswidrig

Wilders, so viel ist sicher, wird es nicht sein. Sein Programm ist wie gehabt knallhart anti-islamisch und gegen Migranten gerichtet: Moscheen, der Koran und das Tragen von Kopftüchern sollen verboten werden. Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft (dazu zählen alle Einwanderer, die aus Marokko stammen) sollen nicht wählen und keine öffentlichen Ämter ausüben dürfen. Und es soll kein Asyl mehr für Zuwanderer aus islamischen Ländern geben. Das Programm sei in Teilen verfassungswidrig, urteilen Juristen. Offensichtlich will Wilders in der Opposition bleiben.

Er profitiert davon, dass sich sein rechter Konkurrent Thierry Baudet durch einen Rassismusskandal selbst aus dem Weg räumte. Der EU-Gegner und Klimawandelleugner, der sich vor zwei Jahren nach einem Erfolg bei der Europawahl auf dem Weg nach ganz oben wähnte, tingelt nun maskenlos über die Marktplätze, verlacht das Virus und beteuert, sich keinesfalls impfen lassen zu wollen.

Um Platz drei kämpfen den Umfragen zufolge, mit Stimmenanteilen zwischen acht und elf Prozent, Christdemokraten (CDA), Linksliberale (D66), Sozialdemokraten (PvdA). Auch die Grünen zählen dazu, die vor vier Jahren zu einem Höhenflug unter dem jungen Jesse Klaver anzusetzen schienen. Klaver hat ihnen Energie und Hoffnung eingeflößt. Nur thematisch, so die Kritik an ihm, gebe er der Partei über die Ökologie hinaus kein klares Profil. Auch lobe er zu oft die Regierung. "Wo ist Ihr Aktivismus geblieben?", wurde Klaver in einem Interview gefragt.

Ein viel größeres Problem hat der neue christdemokratische lijsttrekker, Finanzminister Wopke Hoekstra. Er sei eigentlich mehr Beamter als Politiker, hat der Spitzenkandidat mehrmals betont. In einer TV-Debatte mit Klaver stellte er das, schlecht vorbereitet und schwitzend, eindrucksvoll unter Beweis.

Während die Sozialdemokratin Lilianne Ploumen noch keine Gelegenheit hatte, sich zu profilieren, gelang das Sigrid Kaag, ebenfalls neu an der Spitze von D66, umso öfter. Sie habe das Talent zur Premierministerin, sagt Catherine de Vries. Es wäre die erste Frau in dem Amt. Und eine Pro-Europäerin.

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