Niederlande und Klimawandel:Wenn das Wasser kommt

Niederlande und Klimawandel: 1953 überschwemmte die schwerste Nordsee-Sturmflut des 20. Jahrhunderts weite Teile der niederländischen Küste, so wie hier auf der Halbinsel Zuid-Beveland. Viele Menschen wurden im Schlaf überrascht.

1953 überschwemmte die schwerste Nordsee-Sturmflut des 20. Jahrhunderts weite Teile der niederländischen Küste, so wie hier auf der Halbinsel Zuid-Beveland. Viele Menschen wurden im Schlaf überrascht.

(Foto: Co Zeylemaker/AFP)

Vor 70 Jahren wurden die Niederländer von einer verheerenden Flut überrascht. Seitdem haben sie gewaltige Sperrwerke gebaut - und viele Hochwasserexperten hervorgebracht. Wie wollen diese das vom Untergang bedrohte Land retten?

Von Thomas Kirchner, München

Dick Sies ist sechs Jahre alt, als die Deiche brechen in Nieuwerkerk. Die Flutwelle, die den Ort am 1. Februar 1953 überrollt, reißt seine Familie in den Tod: Vater, Mutter, Schwester, Oma, Opa, Onkel, Cousine. 40 Jahre lang drückt Sies die Trauer weg. Erst 1993, als der Katastrophe im Beisein von Königin Beatrix zum ersten Mal ausführlich gedacht wird im Land, kommt alles hoch. Wenn er die Augen schließt, sieht er nur noch "Wasser, ganz viel Wasser". Irgendwann kann er nicht mehr, geht zum Arzt. Posttraumatische Belastungsstörung. Dank Psychopharmaka und Gesprächstherapie geht es ihm nach ein paar Wochen wieder besser.

Sies' Schicksal ist eines von vielen, die in der Dokumentation "Het water komt (Das Wasser kommt)" geschildert werden. Die vierteilige Serie läuft gerade im niederländischen Fernsehen, im Vorfeld der nationalen Gedenkfeier am 1. Februar, wieder mit Beatrix, die jetzt nur noch Prinzessin ist. Damals vor 70 Jahren trafen ein schwerer Sturm und eine Springflut zusammen. Große Teile des Südwestens der Niederlande wurden überspült, vor allem in den Provinzen Zeeland und Süd-Holland, 1835 Menschen starben, mehr als 50 000 Stück Vieh verendeten. Das Wasser kam über Nacht, überraschend für alle. Kein Radiosender lief um diese Zeit, die Vorhersagen waren vage, es gab keinen Alarm, keinen Evakuierungsplan. Warnungen des Ingenieurs Johan van Veen, der genau ein solches Ereignis vorhergesagt hatte, waren in den Wind geschlagen worden.

So etwas dürfe nie wieder geschehen, beschloss die Regierung. Was zu tun war, hatte van Veen schon Jahre zuvor durchdacht. Eine Kommission unter seiner Leitung musste es nur noch umsetzen. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Deltawerke gebaut, ein System aus Dämmen, Schleusen und monumentalen Barrieren im Mündungsgebiet von Rhein, Maas und Schelde, das als modernes Weltwunder gilt. Markante Teile sind die Oosterschelde- und Maeslant-Sperrwerke. Die Küstenlinie konnte dadurch um 700 Kilometer verkürzt werden, das nimmt auch den Druck von den Deichen im Landesinneren.

Der Klimawandel gefährdet die Niederlande ganz besonders

Eigentlich hatte man noch Glück gehabt 1953. Wäre es ein paar Wagemutigen nicht gelungen, eine Deichlücke bei Nieuwerkerk mit Booten zu stopfen, hätte das Wasser auch Großstädte wie Rotterdam und Den Haag geflutet. Die watersnoodramp, wie die Niederländer die Katastrophe nennen, machte ihnen wieder bewusst, wie verletzlich sie sind. Zwei Drittel des Landes liegen auf dem Niveau des Meeresspiegels oder sogar deutlich darunter, vor allem die wirtschaftlich starken Gebiete im Westen. Noch dazu sinkt der Boden jährlich um mehrere Zentimeter ab.

Auch das erklärt die resolute Reaktion nach 1953. "Wir sind nun sehr viel sicherer als damals", sagt Jeroen Aerts, Professor für Wasser- und Klimarisiken an der Freien Universität Amsterdam. Die Deltawerke schützen theoretisch gegen Fluten, wie sie alle 10 000 Jahre einmal vorkommen. Doch auch wenn die Niederlande nun die "weltweit höchsten Schutzstandards" hätten, sei die Aufgabe nie beendet, so Aerts. Nicht zuletzt wegen des Klimawandels. Der durch die Erwärmung steigende Meeresspiegel und die zunehmenden Wetterextreme stellen eine besondere Gefahr für das Land dar. 2008 hat man mit dem Deltaprogramm nachgelegt beim Schutz, an der Küste wie im Binnenland. Seither wurden Deiche erhöht und verstärkt, Schleusen erneuert, Flüsse erhielten mehr Platz, Städte bekamen Auffangbecken. Jährlich eine Milliarde Euro zusätzlich investiert der Staat dafür.

Doch worauf genau wird man sich einstellen müssen? Das ist wie immer beim Klima nicht einfach, schließlich hängt es auch ab vom künftigen Verhalten der Weltbevölkerung. Noch steigt das Wasser relativ langsam an der niederländischen Küste, langfristig wird sich das wohl ändern. Die Prognosen sind düsterer geworden über die Jahre. Sprach das Meteorologische Institut (KNMI) zunächst von einer maximal drohenden Steigerung um 85 Zentimeter bis Ende des Jahrhunderts, waren es 2014 schon 100, seit 2021 sind es 120 - basierend auf aktuellen Berechnungen der internationalen Klimaforschung. Für den jeweils nötigen Hochwasserschutz sind das gewaltige Unterschiede. Die Deltawerke sind auf einen Anstieg von bis zu 40 Zentimetern angelegt.

Was aber, wenn das Meer noch viel schneller steigt als bisher erwartet? Etwa weil das Eis der Antarktis sich auflöst, wie Experten aufgrund ihrer Forschungsdaten befürchten. Aus den Szenarien des KNMI lasse sich auch ein Anstieg von 2,90 Metern bis zum Jahr 2100 herauslesen, sagen niederländische Wissenschaftler und bemängeln, dass es dafür keinen Plan B gebe. Schon jetzt müsse besprochen werden, was das für das Land bedeuten würde.

Neuland vor der Küste, salztolerante Pflanzen, Rückzug der Menschen

Tatsächlich geschieht das längst. Im Auftrag der staatlichen Deltakommission hat das Forschungsinstitut Deltares Szenarien für den Fall extremerer Anstiege entworfen. Der Blick in die fernere Zukunft eröffnet bedrohlich-faszinierende Perspektiven. Dazu zählen der Aufbau neuen Landes vor der Küste, das zusammen eine Art großen schützenden Deichring bilden könnte, aber auch der Einsatz salztoleranter Pflanzen samt kontrollierter Flutungen sowie schließlich ein weitgehender Rückzug der Menschen aus den bedrohten Teilen des Landes. "Langfristig werden wir den Westen der Niederlande vielleicht nicht halten können", sagt der Glaziologe Michiel Helsen. "Wir müssen die Option erwägen, uns Richtung Deutschland zu bewegen", sagt sein Kollege Roderik van de Wal.

Jeroen Aerts hält einen solchen Rückzug für unrealistisch, keineswegs aber den Bau neuer Inseln im Meer. Auf diese Weise könne angesichts der wachsenden Bevölkerung Platz gewonnen werden. Ein erster Schritt sei die Diskussion über die Verlegung des Amsterdamer Flughafens Schiphol in die Nordsee.

Seit der Frühen Neuzeit hatten die Niederländer den Fluten große Gebiete abgerungen. Das Wasser und seine Gefahr, die waren immer präsent, prägten die Gesellschaft. Neben Tausenden Deichen und Kanälen brachte das Institutionen wie die "Wasserschaften" hervor, die noch heute regional den Wasserschutz verantworten, aber auch kooperative Verhaltensweisen wie die kompromissstarke Polder-Politik.

UN-Wasserkonferenz im März: "Kyoto des Wassers"

Und jede Menge Wasserexperten, ein Heer von Frauen und Männern, die in Risikogebieten weltweit ihre Erfahrung weitergeben. An ihrer Spitze steht Henk Ovink, seit 2015 niederländischer "Wasserbotschafter". Sein Ansatz: neben den Risiken auch die Chancen sehen. Wenn man ihn fragt, ob sein Land langfristig bewohnbar bleiben wird, sagt er: "Es gibt Hoffnung. Wir haben das Wissen und die Technik, es ist nur eine Frage des Wollens." Die Lehre, die er aus der Katastrophe von 1953 zieht, heißt: "vorbereitet sein", in einem umfassenden Sinn. Der "mehrschichtige" Ansatz, für den er plädiert, geht weit über Technisches hinaus, schließt alle Ebenen der Gesellschaft ein, auch die Finanzwelt und Fragen von Inklusion und Gerechtigkeit.

Im Kern fordert Ovink einen weltweit vernünftigen Umgang mit der Ressource Wasser. Gerade ist er in New York, wo im März eine Wasserkonferenz der Vereinten Nationen stattfindet. Analog zum Klima und zur Biodiversität solle auch der Umgang mit Wasser endlich bei den UN institutionalisiert werden. Unter anderem geht es darum, den Wert der Ware Wasser angemessen in das Wirtschaftssystem einzubeziehen. Die Konferenz könne ein Schlüsselereignis sein, sagt Ovink, ähnlich wie das erste Klimaabkommen 1997: "Das ist das Kyoto des Wassers."

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