Süddeutsche Zeitung

Niederlande:Dunkle Schatten

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Die Anklage wirft Russland vor, den MH17-Prozess zu sabotieren: Zeugen würden bedroht, geheime Berichte im Netz veröffentlicht.

Von Thomas Kirchner, Amsterdam

Am zweiten Tag des Prozesses zum Abschuss des Flugs MH17 über der Ukraine hat die niederländische Staatsanwaltschaft Russland vorgeworfen, die Untersuchungen behindert und bewusst falsche Informationen verbreitet zu haben. Die Untersuchungen zu dem Fall, bei dem alle 283 Passagiere und 15 Crew-Mitglieder zu Tode kamen, seien noch nicht ganz abgeschlossen. Das werde im Laufe des Jahres geschehen, inhaltliche Fragen könnten demnach erst im kommenden Jahr im Rahmen des Prozesses besprochen werden. Bis dahin werde die russische Kampagne wohl weitergehen.

Die Staatsanwaltschaft erwähnte einen neuen Zeugen, der beim Abfeuern der Buk-Rakete zugegen gewesen sein soll, die das in Amsterdam gestartete Flugzeug traf. Der Russe habe sich als Freiwilliger den Separatisten angeschlossen. Ihm zufolge freute sich das Buk-Team am 17. Juli 2014, ein "militärisches Transportflugzeug" abgeschossen zu haben. Der Mann habe heimlich vernommen werden müssen, ein öffentlicher Auftritt wäre zu gefährlich. Das gelte für Dutzende weitere Zeugen, die anonym bleiben müssten. Sie fürchteten um ihr Leben, würden bedroht durch russische Dienste oder bewaffnete Gruppen in der Ostukraine. "Das wirft einen dunklen Schatten auf diesen Prozess. Es gibt viele Hinweise, dass russische Dienste versuchen, diesen Prozess zu hintertreiben."

Russland hat nach Sicht der Ankläger keine nachvollziehbare Sicht der Ereignisse vorgelegt

Die Ankläger riefen den Angeklagten Oleg Pulatow auf, eine Aussage zu machen. Dies könne schriftlich geschehen oder per Videoschalte aus Russland. Es werde auch geprüft, ob Pulatow, der im Geheimdienst der Separatisten tätig war, in den Niederlanden aussagen könne, ohne eine Verhaftung zu riskieren. Auch an die anderen Angeklagten habe man viele Fragen. So habe etwa der Separatistenführer Igor Girkin am Tag des Unglücks über den Abschuss eines Flugzeugs gesprochen, während dessen Stellvertreter Sergej Dubinskij das Transportieren von "Spielzeug" erwähnte, womit er die Buk gemeint habe.

Russland habe keine nachvollziehbare Version der Ereignisse vorgelegt, stellte die Staatsanwaltschaft fest. Zunächst hatte das russische Verteidigungsministerium eine ukrainische Buk verantwortlich gemacht, dann einen ukrainischen Kampfjet. Letztere Version wurde im Mai 2015 fallengelassen. "Das russische Narrativ zum Absturz von MH17 besteht darin, die Ermittlungen in Zweifel zu ziehen."

Man habe daher noch genauer als sonst üblich auf die Echtheit der Beweismittel geachtet, sagten die Staatsanwälte. Abgehörte Telefongespräche wurden verschiedenen Telekommunikationsfirmen zur Beurteilung vorgelegt, die Gesprächsteilnehmer wurden ausfindig gemacht und angesprochen. Auch Fotos und Videos wurden geprüft: Man verglich das Licht und den Schattenwurf mit meteorologischen Daten, kontrollierte Kameras und Speichermedien. Als Beispiel wurde eine von Russland bestrittene Aufnahme genannt, die das Buk-System auf der Fahrt durch das ostukrainische Donezk zeigt.

Die Staatsanwälte gingen auch auf den jüngsten Versuch Moskaus ein, Zweifel zu säen: die Veröffentlichung zweier Berichte des niederländischen Geheimdiensts im Netz. Sie sollen zeigen, dass damals keine Buk in der Region war. Wenn man die Dokumente richtig lese, stimme das nicht, so die Ankläger. Sie vermuten, dass die Leaks vom russischen Geheimdienst stammen, der malaysische Mitglieder des internationalen Ermittlerteams gehackt haben könnte. Die Verteidiger von Pulatow beklagten die "scharfe Sprache" der Ankläger. Angesichts ihrer Feststellung, dass Russland Desinformation verbreite, sei es seltsam, dass die niederländische Justiz hin und wieder eben doch mit der russischen Seite zusammenarbeite.

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SZ vom 11.03.2020
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