Niederlande:Die Kehrseite der Toleranz

Niederlande, Anteilnahme nach Tod von Journalist Peter de Vries in Amsterdam AMSTERDAM, 21-07-2021, Peter de Vries memor

Mehrere hundert Meter lang war am Mittwoch in Amsterdam zeitweilig die Schlange der Menschen, die sich von Peter R. de Vries verabschieden wollten.

(Foto: via www.imago-images.de/imago images/Pro Shots)

Der Schock in den Niederlanden über die brutale Ermordung des Kriminalreporters Peter de Vries sitzt tief. Die Tat zeigt die enorme Macht des organisierten Verbrechens. Sie hängt auch mit der liberalen Drogenpolitik zusammen.

Von Thomas Kirchner

Die Niederländer haben Abschied genommen von Peter R. de Vries. Tausende strömten am Mittwoch in ein Amsterdamer Theater, um dem bekannten Kriminalreporter die letzte Ehre zu erweisen, die Schlange der Wartenden erstreckte sich schon am Morgen über Hunderte Meter. Der Schock im Land über die brutale Ermordung des unerschrockenen Aufklärers am 6. Juli, auf offener Straße in Amsterdam, sitzt noch immer tief.

In ersten Reaktionen aus der Politik, etwa von Ministerpräsident Mark Rutte, war von einem "Anschlag auf den freien Journalismus" die Rede gewesen. Das ist nicht falsch, verdeckt aber die Tatsache, dass die Täter und ihre Auftraggeber eher nicht auf die Medien zielten. De Vries hatte dem Kronzeugen in einem großen Mordprozess gegen eine kriminelle Bande beigestanden. Sterben musste er wohl, wie schon der Bruder und der Anwalt des Kronzeugen, weil die Kriminellen mit dem Angriff auf den berühmten Reporter ein unübersehbares Warnzeichen setzen konnten: Finger weg von unseren Geschäften! Diesen Zusammenhang hat nun auch der oberste Staatsanwalt bestätigt.

Das wäre Anlass genug, mit neuem Nachdruck über die erstaunliche Macht der organisierten Kriminalität nachzudenken, über das Treibmittel, das sie wuchern lässt: den Drogenhandel, und über die desaströsen Folgen für den Rechtsstaat und die ganze Gesellschaft. Doch das ist ein Thema, dem die Niederländer gern aus dem Weg gehen, weil es das vorherrschende Selbstbild als tolerantes, cooles Land infrage stellt. Bezeichnenderweise findet sich auch im jüngsten EU-Bericht über den Zustand des Rechtsstaats in den Niederlanden kein Wort darüber.

Das kontrastiert mit dem Begriff "Narko-Staat", der in diesen Tagen für die Niederlande verwendet wurde. Er ist, obwohl er an Zustände wie in Mexiko oder Kolumbien erinnert, keine journalistische Erfindung. Es war die Polizeigewerkschaft, die ihn Anfang 2018 in die Welt setzte, in einem Bericht, der gezielt aufrütteln sollte. Basierend auf der Befragung von 400 Beamten, wurde darin ein enormes Missverhältnis zwischen dem Ausmaß des Verbrechens und der Kapazität der Ermittler konstatiert. Eine kriminelle "Parallelwirtschaft" habe sich entwickelt, doch nur jede neunte Bande könne verfolgt werden. Ihre Profite wüschen die Drogenhändler anschließend in der Gastronomie, auf dem Immobilienmarkt und in der mittelständischen Wirtschaft.

Niederlande sind Drehscheibe für harte Drogen

Was hier verdient wird, lässt sich kaum ermessen, viele Milliarden Euro sind es auf jeden Fall. Die Niederlande sind Drehscheibe für harte Drogen auf dem Kontinent. Ein großer Teil des für Europa bestimmten südamerikanischen Kokains landet im Hafen von Rotterdam oder im belgischen Antwerpen. Gemessen an den Beschlagnahmungen - in Antwerpen waren es 2020 mehr als 65 Tonnen, zehnmal so viel wie 2012 -, sind die Wachstumsraten enorm. Niederländische Händler besorgen die Verteilung, begünstigt von offenen Grenzen und bester Infrastruktur, auch digital. Im europäischen Online-Handel führt das Land, ebenso bei der Herstellung von synthetischen Drogen wie MDMA und Amphetaminen, weit oben liegt es auch bei der Cannabis-Produktion.

Organisiert wird all dies von kriminellen Netzwerken, Motorrad-Banden, Gruppen meist marokkanisch- oder türkischstämmiger Einwanderer, mit Typen wie Ridouan Taghi an der Spitze, der nun vor Gericht steht und mit dem Mord an de Vries in Verbindung gebracht wird. Die Banden stehen in scharfer Konkurrenz, immer wieder kommt es zu Schießereien, Rache- oder Warnmorden, sogar Köpfe wurden abgetrennt. Durchschnittlich einmal im Jahr trifft es Unschuldige, weil die Bosse manchmal Amateure als Killer anheuern. "Vergismoord" heißt das, Mord aus Versehen.

Der Schaden reicht aber tiefer. Schon 2017 beschrieben der Sozialwissenschaftler Pieter Tops und der Journalist Jan Tromp in einem Buch, wie die überwiegend mit dem Drogenhandel verbundene Kriminalität die Gesellschaft unterminiert. Sie konzentrierten sich auf die Provinz Nord-Brabant, wo die meisten Pillenlabore stehen. Kriminelle Aktivitäten hätten sich mit dem täglichen Leben eigentlich redlicher Menschen vermischt: Kuriere, Autohändler, Anwälte, Finanzberater. Razzien brächten wenig, die Behörden seien hilflos. Ein Bürgermeister wird zitiert: "Hier fahren Leute in schrecklich fetten Autos herum und lassen den Arm fürstlich aus dem Fenster hängen. Sie wollen nur eines zeigen: Wir sind hier der Chef."

Kriminelle können sich alles kaufen, klagen Ermittler

Tops, inzwischen Professor für "organisierte und subversive Kriminalität" in Leiden, warnt regelmäßig davor, das Thema zu vernachlässigen. In einem Artikel zitierte er 2020 einen frustrierten Ermittler: "Überall in den Niederlanden wird der Drogenhandel bewusst negiert." Kriminelle kämen schneller zu Geld, als man denke, und könnten sich dann alles kaufen: Auftragsmörder, Hacker, Geräte, die einen unauffindbar machten. "Es gibt so viele Möglichkeiten, dem Staat den Mittelfinger zu zeigen."

Die Politik hat der Polizei mehr Geld zur Verfügung gestellt. Und wie in Belgien gibt es nun "multidisziplinäre" Teams, bei denen Zoll, Steuerfahndung, Polizei und Kommunen zusammenarbeiten und einzelne Erfolge erzielt haben. Amsterdam lässt Touristen bald nicht mehr in Coffeeshops, weil sie zu viel Ärger machen. Ein tieferes Nachdenken über die tolerante Drogenpolitik - bei der Drogen eigentlich verboten sind, aber "geduldet" werden - und einen möglichen Kurswechsel ist jedoch nicht zu erkennen, auch nicht nach dem Mord an de Vries.

Nur ein Leserbrief ließ am Wochenende aufhorchen. Im NRC Handelsblad schrieb sich Paul Stamsnijder, Chef der Beratungsfirma Reputatiegroep, die Wut über sein Land aus dem Leib. Ein "Kulturwandel" müsse her, ein Abschied vom "Polder"-Denken, wonach alle nur lange genug miteinander sprechen müssen, um ein Problem zu lösen. Drogen beförderten die Kriminalität, "es ist Zeit, der Toleranz Grenzen zu setzen". Im Gespräch klagt er über die Selbstgefälligkeit vieler Landsleute: "Wir sind stolz auf unsere Händlermentalität, unsere Offenheit. Wir denken, wir könnten alles schaffen und seien eine Ausnahme in der Welt. Wir sollten bescheidener sein."

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