Corona in den Niederlanden:Streit um die Notbremse

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Stille Nacht: Von 21 bis 4.30 Uhr bleiben in Amsterdam die meisten Fahrräder stehen. (Foto: Piroschka Van De Wouw/Reuters)

Der Rechtsstreit um die nächtliche Ausgangssperre geht weiter, aber vorerst bleibt sie in Kraft. Dabei hatte Premier Rutte die Corona-Schutzmaßnahme selbst nur widerwillig verhängt.

Von Thomas Kirchner, München

Die Corona-Krise ist nicht nur eine gewaltige politische Herausforderung, sie bringt auch den Rechtsstaat an seine Grenzen. Selten wird das so offensichtlich wie am Dienstag in den Niederlanden. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die nächtliche Ausgangssperre, die die Regierung am 23. Januar eingeführt und kürzlich bis 2. März verlängert hatte, gilt vorerst weiter. Das beschloss am Abend ein Gericht, eine halbe Stunde vor dem Beginn der "Avondklok", die ein anderes Gericht zuvor für unrechtmäßig erklärt hatte. Ein großes politisches Desaster hat die Regierung damit vermieden, ein kleines blieb der Tag dennoch für sie.

Das Kabinett von Premier Mark Rutte ist nur noch geschäftsführend im Amt, es war Mitte Januar, zwei Monate vor der Parlamentswahl, wegen einer Affäre um Kinder-Zulagen zurückgetreten. Die Ausgangssperre war die wichtigste politische Entscheidung, die es seither noch traf. Allerdings ohne große Begeisterung: Die wissenschaftlichen Berater hatten die Regierung dazu gedrängt, weil die Infektionszahlen aus deren Sicht noch immer zu hoch sind und sich stark ansteckende Virus-Varianten derzeit schnell verbreiten.

Erinnerungen an die Sperrzeiten der Nazi-Besatzer werden wach

Politisch gelten Ausgangssperren als heikles Mittel in den Niederlanden, auch wegen der Erinnerung an die verhassten Sperrzeiten, die die Nazi-Besatzer während des Zweiten Weltkriegs erließen. Ende Januar kam es nach Protesten gegen die Maßnahme drei Tage in Folge zu schweren Krawallen in mehreren niederländischen Städten. Gleichzeitig strengte die Aktionsgruppe Viruswaarheid Klagen gegen die Regierung an, was am Dienstag zum Erfolg führte.

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Angeführt wird die Gruppe von Willem Engel, einem Tanzlehrer, der die Pandemie für nicht gefährlicher als die Grippe hält, seit Monaten zum Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen aufruft, Vergleiche zur Judenverfolgung zieht und von einer "Diktatur" spricht. Ein Gericht in Den Haag gab ihm am Dienstagmittag recht: Die Regierung hätte die von 21 Uhr bis 4.30 Uhr geltende Ausgangssperre nicht auf ein Ausnahmegesetz stützen dürfen, das Handlungen ohne Zustimmung des Parlaments erlaubt. Eine derartige Lage sei nicht erkennbar. Nach Auffassung vieler Staatsrechtler sollte diese "Notbremse" nur bei Deichbrüchen, Angriffen feindlicher Mächte oder Ähnlichem gezogen werden.

Engel jubelte vor den Medien und rief dazu auf, nicht nur das Gerichtsurteil am Abend auf den Straßen zu feiern, sondern gleich auch noch ein bisschen den verpassten Karneval nachzuholen. Juristisch sei die Sache klar und die Ausgangssperre nicht mehr zu retten. Premier Mark Rutte sprach von einem "Rückschlag". Aber: "Wir sind überzeugt, dass wir inhaltlich und juristisch recht haben." Die Regierung legte umgehend Berufung ein. Um eine politische Niederlage zu verhindern, aber auch weil die 26 000 Geldbußen, die in den vergangenen drei Wochen wegen nächtlicher Verstöße verhängt wurden, mit dem Urteil auf einen Schlag ungültig würden.

Die Richterin wehrte einen Befangenheitsantrag ab

Wiederholt appellierte Rutte an die Bürger: Egal, was die Gerichte sagen, "haltet euch an die Ausgangssperre". Dass Polizisten aus großen Städten wie Amsterdam und Den Haag Engel zu seinem Sieg beglückwünschten, machte Ruttes Aufruf nicht überzeugender. Vor Gericht aber, das nur über die Aussetzung der Ausgangssperre bis zur Berufungsverhandlung am Freitag entschied, hatte das Kabinett Erfolg. Zunächst wehrte die Richterin einen Befangenheitsantrag ab und kam Stunden später zum Schluss: Der Wunsch der Regierung, ein mögliches Hin und Her bei der Ausgangssperre zu verhindern, wiege schwerer als das Ansinnen der Kläger. Inhaltlich werde aber erst am Freitag entschieden.

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Die Regierung hofft nun auf ein für sie positives Berufungsurteil. Für alle Fälle brachte sie am Mittwochmorgen jedoch ein Notgesetz ein, das sie im Schnellverfahren durch beide Parlamentskammern lotsen will. Im Unterhaus, der Zweiten Kammer, hatte im Januar nach anfänglichem Widerstand eine große Mehrheit die Ausgangssperre unterstützt und nur den Anfang eine halbe Stunde nach hinten versetzt.

Mehrere oppositionelle Politiker äußerten harte Kritik am Vorgehen der Regierung. Der Nationalist und Islamkritiker Geert Wilders sagte: "Das ist wohl der größte politische Fehler, den Rutte in seiner Karriere je gemacht hat." Der Premier und seine geschäftsführenden Minister befinden sich nun in der paradoxen Situation, aus politischen Gründen mit allen Mitteln eine Maßnahme verteidigen zu müssen, zu der sie sich eher widerwillig entschlossen hatten.

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