Süddeutsche Zeitung

Niederlande:Außenministerin Kaag tritt nach dem Afghanistan-Fiasko zurück

Die Probleme des niederländischen Premiers Rutte werden immer größer. Wegen des Debakels bei der Rettung afghanischer Ortskräfte verliert er seine wichtigste politische Partnerin. Die Regierungsbildung in Den Haag wird nun äußerst kompliziert.

Von Thomas Kirchner, München

Der chaotische Rückzug der westlichen Truppen aus Afghanistan hat gravierende politische Konsequenzen in den Niederlanden. Die geschäftsführende Außenministerin Sigrid Kaag erklärte am Donnerstagabend ihren Rücktritt, nachdem eine Mehrheit im Parlament sie gerügt hatte. Sie sei, hieß es im Antrag, für die zögerliche Reaktion der Regierung auf den Ansturm der Taliban verantwortlich und habe es unterlassen, für Tausende afghanische Helfer, die in den Niederlanden asylberechtigt wären, eine sichere Ausreise zu organisieren. Viele hätten unnötigerweise in dem Land bleiben müssen.

Kaag wird vorerst ersetzt durch Außenhandelsminister Tom de Bruijn. Der amtierende Premier Mark Rutte nannte Kaags Rücktritt einen "großen Verlust" für das Land. Der Vorgang könnte die festgelaufene Regierungsbildung zusätzlich erschweren. Am Freitagnachmittag musste auch Verteidigungsministerin Ank Bijleveld abtreten. Die Christdemokratin war ebenfalls stark in die Kritik geraten, hatte einen Rücktritt aber zunächst verweigert.

Die Regierung hatte dem Parlament in den vergangenen Tagen Auskunft gegeben über den Verlauf der Rückzugsaktion. Wichtige Fakten fehlten aber offensichtlich. Nachgeliefert wurden sie am Mittwoch, Stunden vor der Afghanistan-Debatte im Parlament, von der Zeitung De Volkskrant. Demnach hatten sich Mitarbeiter der Botschaft in Kabul schon im Frühjahr 2020 mit Sorgen über eine möglicherweise nötige Evakuierung zur Rettung afghanischer Mitarbeiter an das Außenministerium gewandt. Es folgten ein Brandbrief der Botschafterin und wiederholte Aufforderungen, endlich etwas zu unternehmen, es bestehe Lebensgefahr. Alle Vorstöße wurden fast bis zum Ende ignoriert, ebenso wie die Hilfe Frankreichs, das im Juli freie Plätze auf einem Rettungsflug angeboten hatte.

Besondere Empörung bei den Abgeordneten rief eine Anweisung aus Den Haag hervor, die kurz vor dem Fall von Kabul erging. Demnach dürfe das afghanische Botschaftspersonal nur Partner und Kinder mit in die Niederlande nehmen. Die Botschafterin weigerte sich, eine Auswahl zu treffen, das Ministerium lenkte erst ein, als die Taliban schon die Außenbezirke der Stadt erobert hatten. Drei Angehörige kamen schließlich raus, aber anwesend waren 60 Personen.

Äußerst restriktiv zeigte sich die Regierung auch, was das Schicksal der Ortskräfte betrifft, die für die niederländischen Truppen in Afghanistan arbeiteten. Eine offizielle Liste mit den Namen der Dolmetscher existiert nicht. Nur wenige wurden aktiv kontaktiert. Entsprechende Anträge des Parlaments setzte die Regierung nicht oder sehr unvollständig um.

Traumatisiert durch die Katastrophe von Srebrenica

Die Mission in Afghanistan ist politisch besonders sensibel in den Niederlanden, die traumatisiert sind durch die Katastrophe von Srebrenica, als niederländische UN-Truppen ein Massaker an Tausenden schutzbefohlenen Muslimen nicht verhindern konnten. An der Frage der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes zerbrach 2010 ein Kabinett.

Kaag hatte sich im Parlament entschuldigt. "Wir haben auf der Basis falscher Annahmen gehandelt, und das ist eine bittere Tatsache." Man habe "Fehler gemacht, das tut mir leid". Allerdings sei sie nicht allein verantwortlich für das Scheitern. Viele seien gerettet worden. Und aus den sicheren Niederlanden heraus könne man es im Nachhinein leicht besser wissen. Die Linksliberale ist erst seit Mai im Amt, das sie als Krönung ihrer Karriere bezeichnet hat. Sie hat lange Jahre auf hochrangigen Posten im Ausland gearbeitet, zuletzt war sie Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit.

Der Opposition reichte Kaags Reue nicht. "Es wurde zu leichtsinnig und zu spät gehandelt", sagte die Sozialdemokratin Kati Piri. Insgesamt 16 Fraktionen, einschließlich der bisher an der Regierung beteiligten kleinen Christen-Union, unterstützten eine Rüge für Kaag und das Kabinett, eine schwächere Form der Missbilligung als ein Misstrauensantrag. Letztlich kam Kaag um den Rücktritt nicht herum. Denn im April hatte sie Rutte gemaßregelt, weil dieser nach einem Lügenskandal trotz einer Rüge des Parlaments nicht zurückgetreten war.

Seither versucht der seit elf Jahren amtierende Rutte, dessen Partei die Wahl im März klar gewonnen hatte, eine neue Regierung zu bilden. Schwer belastet wird dies durch diverse Skandale Ruttes und einen damit einhergehenden Vertrauensverlust vieler Bürger in die gesamte Politik. Das Kabinett war schon im Januar wegen einer Affäre zurückgetreten und regiert seither kommissarisch.

Wichtigster Partner Ruttes ist die von Kaag geführte linksliberale Partei D66. Kaag hat sich von ihm zwar distanziert, glaubt aber, wie andere Mitte-Parteien, dass an dem 54-Jährigen kein Weg vorbeiführe. Denn sonst drohten Neuwahlen, Instabilität und ein Erstarken des rechten Rands.

Die Option, eine Regierungsmehrheit zu bilden, ist inzwischen geplatzt. Nun wollen es Ruttes VVD, D66 und die Christdemokraten (CDA) mit einem Minderheitskabinett versuchen. Am Wochenende werden die Parteiführer - inklusive Kaag - zu diesem Zweck auf einem Landgut bei Hilversum zusammenkommen.

Viele Augen richteten sich in Den Haag in dieser Woche auch auf den Abgeordneten Pieter Omtzigt, der nach sechs Monaten Burn-out ins Parlament zurückgekehrt ist. Er gilt als Musterpolitiker und unbequemer Aufklärer; Ruttes Probleme haben viel damit zu tun, dass er Omtzigt im Frühjahr heimlich aus dem Parlament wegbefördern wollte. Der ehemalige Christdemokrat hat sich mit dem CDA überworfen und macht als Ein-Mann-Fraktion weiter. Er fordert eine völlig neue politische Kultur.

Laut einer Umfrage käme der im Volk beliebte Politiker auf Platz zwei im Parlament, wenn er eine Partei gründete. Umso intensiver wird sein Agieren beobachtet. In einem Interview sagte er, er wolle noch abwarten und sich auskurieren, bevor er über sein Vorgehen entscheide. Was die künftige Regierung betrifft, empfiehlt er ein Kabinett aus Experten, ohne Rutte und Kaag.

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