Niederlande:Affären bringen Rutte in Bedrängnis

Niederlande: Premier Mark Rutte im Parlament in Den Haag während der Debatte über die Affären, die ihn die Regierung kosten könnten.

Premier Mark Rutte im Parlament in Den Haag während der Debatte über die Affären, die ihn die Regierung kosten könnten.

(Foto: BART MAAT/AFP)

Im Parlament empören sich Abgeordnete über den Premier und verweisen auf geheime Protokolle von Kabinettssitzungen, die Rechtsbruch und Vertuschung dokumentieren.

Von Thomas Kirchner

In den Niederlanden hat das Parlament am Donnerstag in einer Sondersitzung abermals über die Affären diskutiert, die den geschäftsführenden und im März wiedergewählten Ministerpräsidenten Mark Rutte in immer größere Not bringen. Konkret ging es vor allem darum, inwiefern Rutte und seine Minister erstens das Parlament in der "Kinderzuschlagaffäre" bewusst nicht oder selektiv informierten und zweitens Aufklärungsversuche von Abgeordneten sabotierten. Im weiteren Sinne standen auch die politische Kultur in Den Haag und das Vertrauen der Bürger in die Redlichkeit der Politiker zur Debatte.

Hintergrund ist, dass der Staat seit 2012 Tausende Familien verdächtigte, Sozialmissbrauch zu begehen. Schon kleine Formfehler führten dazu, dass die Behörden die gesamte bis dahin geleistete Beihilfe zurückforderten. Viele Betroffene sind deshalb bis heute hoch verschuldet und in Not. Die Vorgänge wurden nur schleppend aufgeklärt. Eine parlamentarische Untersuchungskommissionen sprach von "beispielloser Ungerechtigkeit" und einem "Verstoß gegen Grundprinzipien des Rechtsstaats". Ihr Bericht zwang die Regierung Rutte im Januar zum kollektiven Rücktritt. Im März gewannen Ruttes Rechtsliberale die Parlamentswahl, Rutte würde gerne auch der nächsten Regierung vorstehen.

Eine Serie von Enthüllungen stellt dies zunehmend infrage. Kurz vor Ostern kam zufällig ans Licht, dass Rutte im Zuge der Sondierungsgespräche für die neue Regierung versucht hatte, den Abgeordneten Pieter Omtzigt wegzuloben. Der Christdemokrat war führend beim Versuch des Parlaments, die Kinderzuschlagaffäre aufzuklären und Eltern zu ihrem Recht zu verhelfen. Rutte stritt das Vorhaben ab, wurde aber von Dokumenten überführt und berief sich dann auf eine "falsche Erinnerung". Ein Misstrauensvotum überlebte er dank Unterstützung der eigenen Reihen.

Eigentlich streng geheime Protokolle brachten peinliche Details ans Licht

Vor einer Woche nun veröffentlichte der Sender RTL Auszüge der Protokolle der Kabinettssitzungen, in denen 2019 über den Kindergeldskandal gesprochen wurde. Sie machten deutlich, dass Rutte und seine Minister sich ganz überwiegend nicht mit der Wiedergutmachung des von ihnen selbst zu verantwortenden Unrechts befassten, sondern mit der Frage, wie sie die Reihen schließen, Informationen möglichst feindosiert weitergeben und Schnüffler wie Omtzigt in Schach halten konnten. Laut Verfassung wäre das Kabinett zu mehr Transparenz verpflichtet gewesen.

Beteiligt an den Vertuschungen war auch Finanzminister Wopke Hoekstra, Omtzigts innerparteilicher Rivale, der seinen Kollegen beichtete, er und andere hätten vergeblich versucht, Omtzigt zu "sensibilisieren". Allein die linksliberale Ministerin Sigrid Kaag äußerte zumindest Verständnis für die unbequemen Kollegen in den eigenen Reihen. Am Montag wurden die Protokolle, eigentlich streng geheim, veröffentlicht, ein einzigartiger Vorgang in den Niederlanden. So kamen weitere peinliche Details an den Tag.

In der Debatte scheiterte zunächst ein Versuch der Opposition, die Veröffentlichung weiterer, bis zum selben Tag reichender Kabinettssitzungen zu erzwingen. Oppositionsabgeordnete äußerten tiefe Empörung über das Verhalten des Kabinetts und der Regierungsparteien. Farid Azarkan von der Einwandererpartei Denk sagte, das Land sei zu einer "Scheindemokratie" verkommen, ja einer "Bananenmonarchie". Das Kabinett habe "Arroganz" und "diktatoriale Züge" an den Tag gelegt. Der Rechtsaußen Geert Wilders sprach von einer "Mafia", die das Land regiere, im Kabinett säßen "inkompetente ängstliche Menschen, Egoisten und Narzissten, die nur an sich selbst denken".

Abgeordnete der regierenden Parteien - Rechtsliberale, Linksliberale und Christdemokraten - stimmten zum Teil in die Kritik mit ein, versuchten aber auch Verständnis für die Lage des Kabinetts zu wecken. Es habe dem Parlament Informationen "nicht böswillig" vorenthalten, sagte Ruttes langjährige enge Mitarbeiterin Sophie Hermans. Rutte selbst sagte, seine Regierung sei erschrocken über das, was Zehntausenden angetan worden sei. Das sei keine Absicht gewesen. "Man geht nicht in die Politik, um Menschen so etwas anzutun." Er könne nur "tief beschämt um Verzeihung bitten".

Eine neue Regierung rückt nach den jüngsten Vorgängen in weite Ferne. Beobachter bezweifeln, dass es gelingt, eine Koalition mit Rutte an der Spitze zu vereinen. Allerdings zeichnet sich auch keine alternative politische Mehrheit ab, schließlich wurden Ruttes Rechtsliberale bei der Wahl im März bei Weitem stärkste Partei. Möglich ist daher, dass es zu Neuwahlen kommt.

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