Nichtwähler in Hessen:Der Schlaf der Demokratie

Wie gesund oder wie gefährlich ist der anhaltende Trend zum Nichtwählen? Es gibt Leute, die das als Ausdruck grundsätzlicher Zufriedenheit der Bürger betrachten.

Heribert Prantl

In Japan ist keiner irritiert, wenn die Zuhörer bei einem Vortrag einschlafen. Der Schlaf in aller Öffentlichkeit ist dort Teil der Kultur; man nennt ihn "Inemuri". Inemuri zielt auf schnelle Erholung, gilt als Fitnessprogramm und als Kurzschlafmethode zum Gescheiterwerden. Verwunderten Referenten aus Europa wird erklärt, dass sie den Schlaf ihrer Zuhörer bitte als landestypisches Zeichen der Zustimmung bewerten möchten.

Nichtwähler in Hessen: Den typischen Nichtwähler gibt es nicht - nur die aktuell Frustrierten, die generell Desinteressierten und so fort.

Den typischen Nichtwähler gibt es nicht - nur die aktuell Frustrierten, die generell Desinteressierten und so fort.

(Foto: Foto: ddp)

Man muss zur Inemuri-Erklärung greifen, um dem stabilsten politischen Trend in Deutschland, der sich soeben wieder in Hessen gezeigt hat, etwas Gutes abzugewinnen.

Es ist der Trend zum Nichtwählen: Die Demokratie schläft ein. Die "Partei der Nichtwähler", wie man gern sagt, ist längst die größte Partei in Deutschland. Es gibt Leute, die das als Ausdruck grundsätzlicher Zufriedenheit der Bürger betrachten, als Zeichen einer gereiften, einer in sich ruhenden Demokratie.

Das ist sozusagen das japanische Erklärungsmuster: Wahlenthaltung als Erholungsschlaf. Die Nichtwähler sind nach dieser Erklärung halt gerade nicht so gut drauf, machen daher Pause. Wer schläft, sündigt nicht, sagt schließlich auch der Volksmund.

Ins Wahlpolitische übersetzt: Wer nicht wählt, wählt wenigstens nichts Falsches. An niedriger Wahlbeteiligung ist noch keine Demokratie gescheitert, siehe USA, siehe Schweiz; sehr wohl aber daran, dass es Extremisten gelang, in Massen politisch desinteressierte Nichtwähler für sich zu gewinnen.

Es wäre gefährlich, daraus ein Lied zum Lob des Nichtwählers zu komponieren - nach dem merkwürdigen Motto: Je geringer die Wahlbeteiligung, desto zufriedener sind die Bürger. Die griffige Bezeichnung "Partei der Nichtwähler" gaukelt eine Homogenität vor, die es nicht gibt.

Das Einzige, was die Nichtwähler verbindet, ist die Tatsache, dass sie nicht wählen. Viele der Nichtwähler befinden sich nicht im Kurzzeit-, sondern im Langzeitschlaf. Den typischen Nichtwähler gibt es nicht. Da gibt es die, die nur diesmal nicht gewählt, und die, die schon ewig nicht mehr gewählt haben.

Es gibt die aktuell Frustrierten und die generell Desinteressierten. Es gibt die Nichtwähler, für die ihr Verhalten gezielter politischer Protest ist. Dazu mögen 192.000 bisherige hessische SPD-Wähler zählen, die nicht zu den Grünen (122.000), zur CDU (36000), zur FDP (31.000) oder zu den Linken (8000), sondern gar nirgendwohin gegangen sind.

Gefährlich wird es dann, wenn sich Nichtwähler dauerhaft aus dem demokratischen System verabschieden. Dann leidet die demokratische Legitimation. Dann werden selbst aus stattlichen Prozenten potemkinsche Prozente.

Schon jetzt ist es so: Würden die Nichtwähler wie eine Fraktion gerechnet und die Zahl der zu besetzenden Sitze entsprechend sinken, dann wären viele Parlamente nur noch knapp halb so groß. Eine halbierte Volksvertretung ist eine prekäre Volksvertretung. Und eine Demokratie, zu der immer mehr Menschen auf Distanz gehen, ist keine inemurische, sondern eine schlechte Demokratie.

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