Nicaragua:Wahl ohne Auswahl

Das Land war einmal ein Codewort für eine bessere Welt. Heute steht es für einen Einfamilienstaat, der vom Ex-Comandante Daniel Ortega beherrscht wird. Am Sonntag stellt er sich einer Abstimmung, die viele für eine üble Farce halten.

Von Boris Herrmann, Managua

Der Dichter ist müde geworden. Er schreibt nicht mehr. Er hat doch schon alles geschrieben in seinen bald 92 Lebensjahren. Auch das Reden fällt ihm schwer, das Gehen zumal. Er hört nur noch, wenn man ihn anschreit. Die alten Reflexe des Revoluzzers funktionieren aber noch. Wenn man sein Büro betritt, in dem an einem sonnigen nicaraguanischen Herbsttag ein Klima herrscht wie in einer Sauna, dann greift er zu der Baskenmütze auf seinem Schreibtisch und platziert sie auf seinen langen, weißen Haaren. Dazu das durchgeschwitzte Bauernhemd, die Jeans, die Jesuslatschen - wenn Ernesto Cardenal ein paar Jahre jünger wäre, dann könnte er jetzt noch einmal raus auf die Straße rennen, eine Bewegung gründen und die Regierung zu Fall bringen. So wie schon einmal. Ende der Siebziger.

Er hat damals gelernt, wie man schießt und wie man eine Handgranate wirft. Er war drauf und dran, sich an einem Attentat auf den Diktator Anastasio Somoza zu beteiligen. Am Ende ging es auch ohne Tyrannenmord, Somoza flüchtete mit der Staatskasse und zwei Papageien nach Miami. Der Dichter und Priester Cardenal war einmal so etwas wie der intellektuelle Kopf der Sandinistischen Front, die 1979 unter Daniel Ortega Nicaragua übernahm. Jahrelang fungierte er als Kulturminister der Revolutionsregierung. "Comandante Daniel" hat auch er seinen Anführer damals genannt. Heute meint er denselben Mann, wenn er von "unserem Diktator" spricht.

Am 6. November finden in Nicaragua Präsidentschaftswahlen statt. Ernesto Cardenal wird nicht abstimmen, und er ruft alle Menschen in seinem Land dazu auf, ebenfalls zu Hause zu bleiben. "Es gibt bei dieser Wahl nichts zu wählen."

Ortega, 70, regierte als Revolutionsführer von 1979 bis 1990, bis er überraschend abgewählt wurde. Das soll ihm nicht noch einmal passieren. Schon im Laufe seiner ersten Amtszeit war aus dem linken Guerillero ein linker Caudillo geworden. Seit seiner Rückkehr in den Präsidentenpalast 2007 ist bloß noch der Caudillo übrig. Wofür auch immer Ortega mal gestanden haben mag, inzwischen steht er ausschließlich für sich selbst. "Danielismus" nennt das Cardenal.

Nicaraguas Hauptstadt Managua ist dieser Tage zugeklebt mit Plakaten in Schweinchenrosa. "Vorwärts mit Daniel!", lautet der Slogan. Es gibt drei Motive. Die mit Präsident Ortega; die mit seiner Ehefrau Rosario Murillo; und die mit beiden. Murillo kandidiert diesmal für das Amt der Vizepräsidentin. Jeden Tag um 12.30 Uhr spricht sie im Staatsfernsehen und erzählt von einem Land, in dem es keine Probleme gibt. Es ist ein Wahlkampf ohne Gegner.

Nicaragua ist kein Einparteienstaat, sondern ein Einfamilienstaat. Ortegas Sohn Rafael führt die Erdölgesellschaft, die Söhne Maurice, Daniel und Juan leiten die wichtigsten Fernsehsender. Ein weiterer Sohn, Laureano, ist der Chef der Behörde ProNicaragua, über die alle Investitionen aus dem Ausland abgewickelt werden. Die Töchter Luciana und Camila stehen dem Präsidenten beratend zur Seite. Der kontrolliert neben dem größten Teil der Medien auch das Militär, die Polizei und die Gerichte. Laut der Verfassung ist in Nicaragua die unmittelbare Wiederwahl des Präsidenten nicht erlaubt. Daniel Ortega tritt am Sonntag zum dritten Mal in Serie an.

A womans hides herself behind electoral propaganda that shows Nicaraguan current President and candi

Nicaraguas Hauptstadt Managua ist dieser Tage zugeklebt mit Plakaten. Es gibt drei Motive: die mit Präsident Ortega; die mit seiner Ehefrau Rosario Murillo; und die mit beiden.

(Foto: imago/Agencia EFE)

Viele seiner schärfsten Kritiker sind ehemalige Genossen, die sich persönlich betrogen fühlen. Darunter die einstigen Guerillaführer Henry Ruiz und Dora María Téllez oder der Schriftsteller Sergio Ramírez. Sie haben sich in der Sandinistischen Erneuerungsbewegung organisiert, um die Ideale der Revolution zu retten. Ernesto Cardenal glaubt nicht daran, dass noch irgendwas zu retten ist. Er hängt mehr als er sitzt in seinem Schreibtischstuhl, verbittert, kaut Pfefferminzbonbons mit der Frequenz eines Kettenrauchers. "Es gibt keinen Grund mehr, optimistisch zu sein", schreit Cardenal. Damit er sich selbst hört. An der Wand hängt ein Ölgemälde, naive Malerei, eine Lagune, Palmen, Papageien, das Paradies von Solentiname.

Auf dem Archipel im Nicaraguasee hat der Trappistenmönch Cardenal Mitte der Sechziger seine kontemplative Basisgemeinde gegründet. Hier formte sich der Geist der Revolution. Später fanden sich Brigaden von sogenannten Sandalistas ein, benannt nach ihrem Schuhwerk, die meisten kamen aus Deutschland. Im Einklang mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie wurde dort diskutiert, gemalt und geschnitzt. Cardenals Ruhm als Schriftsteller gründete auf seinem "Evangelium der Bauern von Solentiname", für das er 1980 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt.

Nicaragua, das war einmal ein Codewort für eine bessere Welt. Für landwirtschaftliche Kooperativen, subventioniertes Getreide, fair gehandelten Kaffee, kostenlose Gesundheitsversorgung und naive Kunst. Kaum einer hat diese Utopie besser verkörpert als Cardenal mit seinem Solentiname-Projekt. Der Garten Eden der Soli-Bewegung. "Die Revolution war eine sehr schöne Sache, die Ortega nach und nach abgeschafft hat", sagt der Dichter heute.

Die Demokratie leidet. Aber den meisten Nicaraguanern geht es besser als vor zehn Jahren

Abgeschafft wurde zuletzt auch die Opposition. Ortegas einzigem ernst zu nehmenden Gegenkandidaten, Eduardo Montealegre, wurde im Juni per Gerichtsbeschluss der Vorsitz der größten Oppositionspartei entzogen, der legitime Anführer sei Rollin Tobie Forbes, verfügten die Richter. Forbes ist seit 2011 tot. Das muss in Nicaragua aber kein Hindernis sein, um ein politisches Amt zu bekleiden. Der Parlamentspräsident René Núñez lebt auch nicht mehr.

Die deutsche Nicaragua-Bewegung lebt noch, wenn auch mit Existenzängsten. Es gibt weiterhin 30 Städtepartnerschaften. Und im "Haus der drei Welten" von Granada, das Cardenal mit dem österreichischen Schauspieler Dietmar Schönherr aufgebaut hatte, finden mit deutschem Beistand bis heute Malkurse, Theaterworkshops und Chorproben statt. Aber auch unter den Altlinken der Bundesrepublik wächst die Einsicht, dass der real existierende Danielismus nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Spendenzweck zu tun hat. Die Junglinken haben ohnehin andere Sorgen. Mit den Illusionen schwindet der Geldfluss.

Dichter Ernesto Caredenal

"Die Revolution in Nicaragua war eine sehr schöne Sache, die Daniel Ortega nach und nach abgeschafft hat."

Die Campesinoschule von Solentiname wurde schon vor vielen Jahren in ein Hotel umgewandelt, das jetzt der Reiseunternehmer Immanuel Zerger mit seiner Agentur "Soletinametours" verwaltet. Zerger, 56, kam einst als Sandalista aus dem Allgäu nach Nicaragua. Er hat hier eine ehemalige sandinistische Widerstandskämpferin geheiratet. Ernesto Cardenal lernte er Anfang der Achtziger bei einer Lesereise durch Deutschland kennen. Heute ist auch Zerger schwer enttäuscht - allerdings nicht von Ortega, sondern von Cardenal.

Die beiden verbindet eine herzliche Feindschaft, die sich nicht zuletzt um die Frage dreht, wer der legitime Hausherr von Solentiname ist. Cardenal und Zerger repräsentieren aber auch die zwei linken Fronten im gegenwärtigen Nicaragua. Cardenal würde sagen: die Aufrechten und die Verräter. Andere sprechen lieber von den Moralisten und den Pragmatikern.

Wenn man die Sache pragmatisch sieht, so wie Immanuel Zerger, dann ist tatsächlich schwer zu leugnen: Das einstige Bürgerkriegsgebiet Nicaragua ist heute sicherer und entspannter als andere Länder der Region, die Straßen sind ebener, das Stromnetz bricht seltener zusammen, es gibt sichtbare Fortschritte bei Gesundheit und Bildung, und selbst in den ärmsten Gegenden von Managua fließt das Abwasser in eine Art Kanalisation. Nicaragua ist zwar immer noch eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, es gehört aber auch zu den wenigen Volkswirtschaften des Kontinents, die stabil wachsen, seit Jahren zwischen vier und fünf Prozent. Die extreme Armut ist in Ortegas zweiter Amtszeit genauso gefallen wie die Arbeitslosenquote, derzeit liegt sie offiziell bei 6,8 Prozent. "Der Masse der Bevölkerung geht es schlichtweg besser als vor zehn Jahren", sagt Zerger.

Ernesto Cardenal verschluckt sich fast an einem Minzbonbon, als er diesen Satz hört. Ein paar Almosen für die Armen können doch niemals den systematischen Abbau der Demokratie rechtfertigen! Gewiss nicht. Aber es erklärt vielleicht, weshalb 46 Prozent der Nicaraguaner der Meinung sind, dass ihr Land zum Wohl der Menschen regiert werde. Das ist der höchste Wert in ganz Lateinamerika.

Ortegas Reden sind streng sozialistisch, seine Taten eher neoliberal

An einem Abend kurz vor der Wahl, die keine ist, sind auf dem Vorplatz des Nationalpalastes von Managua 1200 kleine Tische gedeckt, auf jedem ein Schachbrett und vor jedem Schachbrett zwei uniformierte Schüler oder Schülerinnen. Ein Lehrer sagt: "Hier geht es darum, den Intellekt zu fördern." Da ist allerdings auch ein Parteifunktionär mit einem Mikrofon, der dafür sorgt, dass alle mitbekommen, wer hier wen fördert: "Dieses Simultan-Schachturnier wurde ermöglicht durch die Liebe und die Führungsstärke unseres Präsidenten Daniel und unserer Compañera Rosario." Als dann die ersten Bauern, Springer und Türme gezogen werden, brennt bereits das Flutlicht. Aus den Lautsprechern ertönt ein Lied mit dem Refrain: "Mit Gottes Liebe bringen wir die Revolution voran."

Ortegas Reden sind weiter streng sozialistisch, seine Taten eher neoliberal. Ähnlich wie Lula da Silva im vergangenen Jahrzehnt in Brasilien finanziert er seine populären Sozialprogramme mit einer Politik, die internationalen Investoren gefällt. Katar baut ein Krankenhaus, eine deutsche Firma produziert in einer von zahlreichen Freihandelszonen Autozubehör, ein undurchsichtiges chinesisches Konsortium will eine Schifffahrtsrinne vom Atlantik zum Pazifik graben. Dort, wo die Kaffeepflücker-Brigaden einst das Paradies vermuteten, entsteht heute ein Steuerparadies.

Daniel Ortega ist auch deshalb so unbegreiflich, weil er ein Autokrat ohne Not ist. Sein venezolanischer Kollege Nicolás Maduro hat sein Land zugrunde gerichtet und ist im Volk so unbeliebt, dass er gar keine anderen Wahl hat, als Wahlen zu verhindern. Ortega aber hätte die Abstimmung am Sonntag ohnehin gewonnen. Es wäre nicht nötig gewesen, die Presse zu unterdrücken und die Opposition zu verbieten. Wer oder was treibt ihn an? Eine Art Verfolgungswahn, den er sich im Bürgerkrieg eingehandelt hat, meinen manche. Seine machtgierige Gattin, glaubt Cardenal: "Ich hatte einmal eine sehr hohe Meinung von Daniel, aber dann hat er sich korrumpieren lassen von dieser Frau, die voller Hass ist." Am Ende eines langen Dichter-, Prediger- und Kämpferlebens sagt Cardenal: "Wir stehen fast wieder da, wo wir angefangen haben."

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