Nicaragua:Die Amnestie kommt, aber die Angst bleibt

Women cry during a religious service for 56 political prisoners who were released under a new law that frees people who were arrested in recent protests against Nicaraguan President Daniel Ortega's government, in Masaya

Tränen für die Freigelassenen: Ein Teil der bei den Protesten 2018 Festgenommenen Nicaraguaner kam durch die Amnestie aus der Haft.

(Foto: Oswaldo Rivas/REUTERS)

Nach dem brutalen Vorgehen gegen Kritiker will Staatschef Ortega Milde zeigen. Aber Oppositionelle bangen weiter.

Von Benedikt Peters

Dieser Tag im Juni hätte für Madelaine Caracas ein Tag der Freude sein können. Aber sie sagt, sie könne keine Freude empfinden. Caracas ist 21 Jahre alt und kommt aus Nicaragua. Ihr Heimatland hat sie aber schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr betreten - weil sie im Frühjahr 2018 eine Entscheidung traf, die ihr Leben für immer verändern sollte.

Caracas organisierte damals nach dem Brand in einem Naturreservat einen Studentenprotest, weil sich die Regierung kaum um das Feuer kümmerte. Als die Regierung dann noch Pläne für eine umstrittene Rentenreform bekannt gab, schwollen die Demonstrationen weiter an, es wirkte zeitweise, als stünde der Sturz des Langzeit-Präsidenten Daniel Ortega unmittelbar bevor. Doch dann ließ Ortega die Proteste blutig niederschlagen und politische Gegner ins Gefängnis werfen. Am Ende waren 325 Menschen tot und Hunderte in Haft. Caracas gelang die Flucht ins Exil, nach Costa Rica. Sie habe alles verloren, sagt sie, ihre Heimat, ihre Familie. Auch ihrem Studium der Kommunikationswissenschaften kann sie nicht mehr nachgehen.

Vor wenigen Tagen nun verabschiedete Nicaraguas Parlament ein Gesetz, das den Demonstranten von damals eine Amnestie in Aussicht stellt. Mehr als 100 Häftlinge sind inzwischen wieder frei, etwas weniger sind noch im Gefängnis. Für Caracas und die anderen Aktivisten, die ins Exil geflohen sind, müsste das Gesetz eigentlich bedeuten, dass sie wieder nach Hause können. Aber Caracas sagt: "Ich habe große Angst." Denn seit Ausbruch der Proteste im vergangenen Jahr ist in Nicaragua alles anders. Zwar gab es auch früher schon verhaltene Kritik an Präsident Ortega, man warf ihm hin und wieder vor, die Opposition zu gängeln, es gab auch Vermutungen über Korruption und Wahlbetrug.

Alles in allem aber liefen die Dinge besser als in anderen, gebeutelten Staaten Mittelamerikas. Die Vereinten Nationen bescheinigten Ortega Fortschritte im Bildungs- und im Gesundheitssystem, die Kriminalitätsstatistik sah vergleichsweise gut aus. In Nicaragua werden zum Beispiel deutlich weniger Menschen ermordet als in Honduras oder El Salvador, wo kriminelle Banden ihr Unwesen treiben. Inzwischen aber ist Nicaragua nach Venezuela das zweite Land in Lateinamerika, das auf dem Papier von einem linken Präsidenten regiert wird, de facto aber in Richtung Diktatur treibt.

Ortega hat kritische Medien schließen und Oppositionelle verfolgen lassen und ein Heer politischer Flüchtlinge geschaffen, das darauf wartet, dass es wieder nach Hause kann. Madelaine Caracas ist bei weitem nicht die einzige Exilantin, allein nach Costa Rica haben sich 50 000 Nicaraguaner geflüchtet. Das Amnestiegesetz ist in den Augen der nicaraguanischen Opposition nur ein Vorwand. "Es geht nicht um eine Amnestie. Es geht um Straflosigkeit", sagt Madelaine Caracas. Zwar sei es gut, dass endlich einige der Oppositionellen freigelassen würden. Die Amnestie soll aber nicht nur für die Oppositionellen gelten - sondern auch für die Schergen, die Ortega im Frühjahr 2018 auf sie losließ.

Und die Mörder der Demonstranten bleiben unbehelligt

Was diese Schergen getan haben, ist ziemlich gut dokumentiert. Menschenrechtsorganisationen kommen zu dem Schluss, dass regierungsnahe, bewaffnete Mobs und die Polizei für einen Großteil der mindestens 325 Toten verantwortlich seien. Amnesty International etwa hat Dokumente veröffentlicht, die zeigen, wie Vermummte auf Demonstranten schießen und Polizisten dabei seelenruhig zuschauen. Auf anderen Aufnahmen schießen die Polizisten selbst. Zudem zeigte sich bei den Getöteten ein Muster, die Kugeln trafen häufig in Brust und Kopf. Das deute auf professionelle Schützen hin, schreibt Amnesty.

Caracas und die anderen fordern, die Todesschützen müssten endlich zur Rechenschaft gezogen werden, ebenso wie Ortega und dessen Ehefrau Rosario Murillo, die auch seine Stellvertreterin ist. Ortega solle abdanken und Neuwahlen ausrufen.

Passiert ist aber in dieser Hinsicht nichts, stattdessen hat Ortega Nicaragua in einen Polizeistaat verwandelt und ein Demonstrationsverbot erlassen. Schon das Tragen der Nationalflagge - die auch die regierungskritischen Demonstranten verwendeten, steht unter Strafe. Mehrere Dialogversuche sind gescheitert. Die Wirtschaft des ohnehin nicht gerade wohlhabenden Landes ist unter diesen Bedingungen eingebrochen, 2018 schrumpfte sie um knapp vier Prozent, für 2019 sind die Prognosen noch schlechter. Unter anderem die USA haben Sanktionen gegen Nicaragua verhängt, die Europäische Union hat solche zumindest erwogen. Mit dem Amnestiegesetz versucht Ortega, den internationalen Druck abzuschwächen.

Madelaine Caracas wird vorerst nicht nach Hause zurückkehren, auch wenn sie ihre Familie sehr vermisst. Sie lebt mit anderen Aktivistinnen in einer kleinen Wohnung irgendwo in Costa Rica. Wo genau, das verrät sie nicht, aus Sicherheitsgründen. Sie bekomme immer wieder Todesdrohungen, erzählt sie, in den regierungsnahen Medien wird sie diffamiert. Sie fürchtet deshalb, dass ihr in Nicaragua etwas zustoßen könnte.

Weit hergeholt ist das nicht, wie die Geschichte von Irlanda Jerez zeigt. Die Oppositionelle war wegen der Amnestie Anfang der Woche aus dem Gefängnis frei gekommen. Einen Tag später zog ein regierungstreuer Mob zu ihrer Wohnung in Managua. Sie schlugen ihren Ehemann, plünderten die Wohnung und machten sich dann davon.

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