Kaum jemand zweifelt an Newt Gingrichs Intelligenz, und nur wenige an seiner geistigen Gesundheit. Dennoch dürfte er in der seltsamen Show des republikanischen Vorwahlkampfes der größte Kauz sein. Er scheint ernsthaft den Mond besiedeln zu wollen und fragt sich, was passiert wäre, wenn Hitler 1945 überlebt hätte. Einer amerikanischen Reporterin gestand er einmal, einer seiner größten Träume sei es, Faultiere in Südamerika zu beobachten. Vor allem aber liebt er Bücher. Er liest wie ein Besessener und hat selbst schon 23 Bücher geschrieben.
Bei Gingrich, dem Autor, vermischt sich politische Analyse mit Science-Fiction, Geschichte mit Hypothetischem. Seine Erfahrung als Buchautor hat auch Einfluss auf den Politiker Gingrich. Sie bestätigten für ihn: Je steiler die These, je apokalyptischer das Szenario und je lauter das Auftreten, umso mehr Aufmerksamkeit und damit politisches Kapital. So funktioniert heute die gesamte amerikanische Mediendemokratie.
Der 68-Jährige selbst hat sich einmal "ein Psychodrama, das seine Fantasie auslebt" genannt - was auch immer das bedeuten mag. Zugang zu Gingrichs Gedankenwelt findet man wohl am ehesten über die Bücher, die er geschrieben hat - von nationaler Erbauungsliteratur über Romane aus dem Genre der Alternativweltgeschichte bis zum Bildband.
Andrew Ferguson hat für die New York Times alle Werke des Kandidaten gelesen. Sein Fazit: "Gingrich war panisch bevor panisch cool war." Der Konservative war seiner Zeit also voraus. Auch Peggy Noonan vom Wall Street Journal hat sich eingehend mit Gingrich beschäftigt. Sie schreibt: "Er ist eine menschliche Handgranate, die mit der Hand an ihrem eigenen Zünder herumläuft und sagt: 'Jetzt schau her!'"
Gingrich ist ein history buff, was man wohl am besten als "Nerd mit Spezialgebiet Geschichte" übersetzt. Er wäre erst der zweite US-Präsident mit einem Doktortitel. Seine Arbeit trägt den Titel Belgische Erziehungspolitik im Kongo 1945-1960 ( Für die Times hat Kongo-Kenner Adam Hochschild sie gelesen).
Besonders fasziniert ist er vom Literaturgenre der Alternate History, historischen Romanen, die nach dem Prinzip "Was wäre wenn ..." funktionieren. In Gingrichs 1945 hat zum Beispiel Hitler das Kriegsende in Europa überlebt, jetzt bedroht er die Vereinigten Staaten. In Never call Retreat schreibt er den amerikanischen Bürgerkrieg um. Dietmar Dath hat sich für die FAZ Gingrichs schriftstellerisches Werk mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers angesehen.
Doch er ist nicht nur an der Vergangenheit interessiert. Neben historischen Darstellungen gibt er ebenso die Foundation-Trilogie des Science-Fiction-Autors Isaac Asimov als Inspirationsquelle an. Gingrich ist ein rechtskonservativer Futurist, mit einem unerschütterlichen Glauben daran, dass die Technologie die Welt von den Übeln des angeblich sozialistischen Sozialstaates beschützen werde. Nur in diesem Kontext kann man sein Wahlversprechen einer Mondkolonie verstehen, das Europäer so irritiert hat.
Mit Murdoch vor dem Ethik-Kommittee
Technisch ist alles möglich für Gingrich: In To Renew America kritisierte er 1995 den Bestsellerautor Michael Crichton, weil der den Menschen in seinem Buch Jurassic Park Angst vor der Unbeherrschbarkeit der Natur mache. Stattdessen schlug Gingrich vor: "Warum nicht danach streben, einen echten Jurassic Park zu bauen? Wäre das nicht eine der spektakulärsten Leistungen der Menschheit?"
Gegner verspotten ihn gern wegen eines Satzes aus demselben Buch: "Flitterwochen im Weltall werden im Jahr 2020 groß in Mode sein." Acht Jahre sind es ja noch bis dahin.
In den Neunzigern löste Gingrich mit einem seiner Bücher sogar einen kleinen Skandal aus. Allerdings nicht wegen des Inhalts. 4,5 Millionen Dollar zahlte HarperCollins, das Verlagshaus von Rupert Murdoch, für sein Buch Lessons Learned The Hard Way. Der australische Mogul kämpfte zu jener Zeit um besseren Zugang zum amerikanischen Fernsehmarkt. Beide mussten vor dem Ethik-Komitee des Repräsentantenhauses aussagen. Konsequenzen hatte der Deal für Gingrich sonst keine.
Sprachlich ist Gingrichs Werk eher anstrengend für den Leser - obwohl er sich durchaus um Verständlichkeit bemüht: Ständig präsentiert er durchnummerierte Listen ("Fünf Säulen der amerikanischen Zivilisation", "Fünf Feinde des freien Unternehmertums", "Sieben Schritte, um den Drogenkosum zu reduzieren"). Die Sprachbilder wiederholen sich ("Fenster der Möglichkeit", "Fenster der Verwundbarkeit", und immer wieder befindet sich Amerika an den "crossroads" - dem sprichwörtlichen Scheideweg, dessen häufiger Verwendung in Medien die taz vor Jahren eine eigene Kolumne gewidmet hat).
Die Schriftstellerin Joan Didion hat sich 1995 mit dem Œ vre Gingrichs beschäftigt. Sie war fasziniert von der Mischung aus vagen politischen Visionen und dem damals boomenden Genre der Ratgeberliteratur - und von seiner umständlichen Ausdrucksweise. Dem Literatur-Masochisten Ferguson ist diese Art zu schreiben, die sich durch alle Bücher Gingrichs ziehe, übrigens Beweis dafür, dass er weitestgehend auf Ghostwriter verzichtet hat. Wenn es um Bücher geht, traut Gingrich wohl niemandem außer sich selbst.
82 Prozent finden Gingrichs Rezensionen "hilfreich"
Nachdem Gingrich 1999 als Sprecher des Repräsentantenhauses zurückgetreten war, hatte er viel Zeit. Die nutzte er vor allem zum Lesen, dafür spricht zumindest sein Profil beim Online-Buchhändler Amazon. 156 Bücher hat er zwischen 2000 und 2008 besprochen (82 Prozent der Leser fanden seine Rezensionen "hilfreich"), vor allem Geschichtsbücher, Spionage-Thriller und natürlich Science-Fiction. (Die Washington Post und die Magazine Weekly Standard sowie Slate haben sich Gingrichs Amazon-Profil genauer angeschaut.)
Mit seiner Frau Callista zusammen hat er einen Bildband ("featuring the photography of Callista Gingrich") verfasst, einen Streifzug durch Washington, der zu historischen Orten wie dem Jefferson Memorial und dem Nationalfriedhof in Arlington führt. Newt und Callista suchen in den Bauten nach Spuren des Religiösen. Das Buch trägt den Namen: "Gott in Amerika wiederentdecken." Gingrich macht selbst mit einem Bildband Politik. Denn liberale Amerikaner halten die Mehrheit der Gründungsväter - vor allem Jefferson - für Vertreter einer Trennung von Kirche und Staat, die sich eher der Aufklärung als einem traditionellen Christentum verpflichtet sahen.
Noch im Januar sah es so aus, als könnte Newt Gingrich Mitt Romney, dem republikanischen Favoriten für die Nominierung, richtig gefährlich werden. Doch der alte, harte Hund hat in den Umfragen wieder deutlich verloren, der jüngere Rick Santorum hat ihn mit seiner kompromisslosen konservativen Linie überholt und liegt nun fast gleichauf mit Romney. In Michigan und Arizona tritt Gingrich an diesem Dienstag gar nicht ernsthaft an. Er setzt alles auf nächste Woche, wenn Super Tuesday in zehn Bundesstaaten abgestimmt wird. Schneidet er dann schlecht ab, dürfte er sich aus dem Rennen verabschieden. Dann hätte er wieder Zeit, sich um sein Amazon-Profil zu kümmern.