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SZ Europa:Der Brexit hat die EU zusammengeschweißt

Plötzlich besinnt man sich in Brüssel wieder auf das, was die Union stark macht. Und das Chaos um den Austritt der Briten ist so groß, dass es mögliche Nachahmer-Staaten definitiv abschreckt.

Europakolumne von Alexander Mühlauer

Auf den Tag genau vor zwei Jahren machte sich Sir Tim Barrow auf zu einer historischen Dienstfahrt. Der britische EU-Botschafter stieg am Vormittag des 29. März 2017 in seinen schwarzen Jaguar und ließ sich zum Brüsseler Ratsgebäude chauffieren. Die EU-Zentrale liegt keine 500 Meter von der britischen Botschaft entfernt, Sir Tim hätte also auch zu Fuß gehen können - doch an diesem Tag wäre er nicht weit gekommen.

Schon vor der schweren Eisentür der Botschaft warteten so viele Reporter auf ihn wie nie zuvor in seinem Diplomatenleben. Das war allerdings kein Wunder, hatte Sir Tim doch einen Brief dabei, wie es ihn in der Geschichte der EU noch nicht gegeben hatte: das Schreiben der britischen Premierministerin, in dem sie den EU-Austritt ihres Landes nach Artikel 50 des EU-Vertrags erklärte.

Mit jenem Moment, als Sir Tim im Brüsseler Ratsgebäude eintraf und diesen Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk übergab, begann ein Polit-Drama, das Europa bis heute in Atem hält. Der Brexit lässt uns einfach nicht los. Zwei Monate vor der Europawahl ist immer noch nicht klar, wie es ausgeht. Nur eines steht jetzt schon fest: Der Brexit hat die EU in einer Form zusammengeschweißt, wie es selbst in Brüssel nur wenige vorhersehen konnten.

In den zwei Jahren des quälenden Austrittsprozesses fand die zerstrittene EU zu einer bemerkenswerten Einigkeit. Die Wahrung der Einheit als übergeordnetes Ziel war vor allem eine Art Selbstschutz; schließlich wollten sich die 27 verbleibenden Länder nicht von London spalten lassen. Allen voran Deutschland war darum bemüht, dass es keine Nachahmer gibt. Der politische und ökonomische Preis des Brexit muss also so hoch sein, dass es sich für andere Staaten nicht lohnt, auch nur mit einem EU-Austritt öffentlich zu liebäugeln.

Nun, zwei Jahre nach der denkwürdigen Briefübergabe, weiß man: Der Brexit ist dermaßen abschreckend, dass von einem Ixit, Öxit oder Frexit keine Rede mehr ist. Der Brexit hat gezeigt, was einem Land blüht, das sich nicht entscheiden kann, welche Vorteile der EU-Mitgliedschaft es wirklich aufgeben will, um Souveränität zurückzuerlangen. Gerade für die EU-27 war es erbauend, sich mit dieser Abwägung auseinanderzusetzen. Plötzlich redete man in Brüssel wieder über das, was die EU noch immer am stärksten zusammenhält: den Binnenmarkt. Plötzlich war man wieder stolz auf das, was man im Zuge der europäischen Einigung erreicht hat.

Die Europäische Union hat eine klare Antwort gefunden

Wem das jetzt zu positiv klingt, dem sei gesagt: Keine Sorge, über Negatives spricht man in Brüssel immer noch genug. Und wer als Korrespondent über die EU schreibt, ist vor allem Krisenberichterstatter. Das gilt natürlich auch für den Brexit. Denn nach Griechenland-Krise und Flüchtlingskrise stürzte auch das Brexit-Referendum die EU zunächst in eine tiefe Krise. Die Gemeinschaft wurde im Innersten getroffen. Ihre Existenz wurde infrage gestellt. Doch die Europäische Union hat darauf eine klare Antwort gefunden: Sie steht weiter zueinander - und so sind dem Staatenklub die Sorgen seines Mitglieds Irland selbstverständlich näher als jene Großbritanniens.

Wie auch immer der Brexit-Streit in London ausgehen wird, in Brüssel macht man sich nichts vor: Der schwierigste Teil der Verhandlungen steht noch bevor. Das mag angesichts des Wahnsinns in London komisch klingen, ist aber so. Denn sobald es um die künftige Beziehung geht, werden die unterschiedlichen Interessen der EU-Staaten deutlich werden. So steht etwa für Slowenien weitaus weniger auf dem Spiel als für die Niederlande, die mit Großbritannien wirtschaftlich eng verbunden sind.

Nicht nur die Brexit-Beamten der EU-Kommission werden also noch viel zu tun haben. Wahrscheinlich auch Sir Tim Barrow. Bislang ist nicht überliefert, ob der Botschafter mit der Premierministerin abtritt (wann auch immer das sein mag). Oder ob er vielleicht hinschmeißt wie sein Vorgänger Sir Ivan Rogers im Januar 2017. Der konnte den Irrsinn seiner Regierung irgendwann nicht mehr ertragen und schon gar nicht in Brüssel vertreten. Der britische Diplomat war einer der wenigen, der davon überzeugt war, dass der Brexit auch gewisse Selbstheilungskräfte in der EU freisetzen würde. Sir Ivan sollte recht behalten - allem Chaos zum Trotz.

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