New York:Häuserkampf

Einst galten die Red Hook Houses als Antwort auf Armut und Gewalt. Heute gelten sie als deren Nährboden. Was ist passiert?

Von Peter Richter

Dass der Tag kommen würde, sagt Jeminis Mutter, das wusste sie, seit sie ihn vor 19 Jahren zur Welt gebracht hat. "Als ich meine Kinder bekam, hatte ich zum ersten Mal ein Gefühl für Sterblichkeit. Und diese Nachbarschaft ist nicht sicher."

Oder beginnt es noch früher? Bei der Länge der Balken, die man für Fußböden verwenden konnte? Die betrug vor 200 Jahren maximal 25 Fuß, lehrt Richard Plunz, Architekturhistoriker an der Columbia University, 7,60 Meter. Daraus leitet sich die typische Größe eines New Yorker Grundstücks ab: 25 mal 100 Fuß - 7,60 Meter breit und 30,50 Meter tief.

Sie hatte, sagt sie, gerade wieder gebetet für ihre Kinder, als die Schüsse fielen. "Jemand schrie: Jemini ist getroffen worden, Jemini ist getroffen worden. Das Letzte, was ich hören wollte. Und dann musste ich mich zusammennehmen und da rübergehen. Aber ich war ganz ruhig, ich spürte Gottes Gegenwart dort."

Sogenannte Tenements - die deutsche Entsprechung wäre: Mietskasernen - entstanden da, wo auf solchen Grundstücken so viele Menschen wie möglich unterkommen mussten; Tageslicht sahen dort die wenigsten.

Die Jugendlichen hatten auf der anderen Seite des Blocks im Vorgarten gesessen, als um 22:51 Uhr der grüne Ford Explorer vor dem Haus 9A Dwight Street in Brooklyn hielt: einer blieb sitzen, zwei stiegen aus, die T-Shirts über die Nase gezogen, Pistolen in der Hand. Und jetzt lag da zwischen all den anderen tatsächlich ihr Sohn. Sie dachten zuerst, Jemini sei nur in den Fuß getroffen worden. Aber er hatte gleich neun Kugeln abbekommen. Eine blieb einen Millimeter vor dem Herzen stecken. Das war kein Zufall, sagt Jeminis Mutter. "Das war Gott." Die Ärzte sorgten sich mehr um eine Blutung im Bauchraum.

Rund 80 Grundstücke bilden einen New Yorker Block von rund 200 mal 800 Fuß. Ab 1811 wurde alles, was nördlich der 14th Street lag in Manhattan, in ein Raster aus solchen Blocks gepresst, rechtwinklig unterteilt von 100 Fuß breiten Avenuen und 60 Fuß breiten Straßen. Die anderen Stadtteile übernahmen das, auch Brooklyn.

Jemini sagt, die wenigen Gedanken, die er im Krankenhaus fassen konnte, hätten sich um Basketball gedreht: Ob er jemals wieder spielen kann. Und um seine Freunde. Insgesamt waren fünf Menschen getroffen worden, darunter drei Frauen, eine davon schwanger. Der Fötus überlebte die Nacht nicht. Es ist die Nacht des 3. August, ein Montag. Am Wochenende davor war mehr los: zehn Schießereien, 22 Getroffene, drei davon tödlich. Ein Polizeisprecher nennt das jahreszeittypisch: Je heißer, desto mehr Gewalt. In den Tagen darauf werden drei junge Männer festgenommen, alle 19, alle aus den Gowanus Houses. Die Polizei spricht von Vergeltung für eine vorangegangene Attacke einer Gang aus den Red Hook Houses. "Welcome to Red Hook Houses" steht vor der Siedlung aus roten Backsteinhäusern in der Dwight Street. Nummer 9 A gehört allerdings nicht dazu. Das Haus, vor dem die Schießerei stattgefunden hat, liegt einen Block vor den Red Hook Houses, es ist im Prinzip eins dieser Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten, die von jungen weißen Familien in Brooklyn jetzt so geschätzt werden. Nur dass hier vor allem Schwarze wohnen.

T.H.U.G. Angelz: „Welcome to Red Hook Houses“

If you ain't walking with faith this is the wrong place

"The Horror at Red Hook" ist eine Erzählung von H.P. Lovecraft aus dem Jahr 1925: Der verrufene Hafenzipfel von Brooklyn ist da buchstäblich der Eingang zur Hölle. Lovecrafts Grusel war der Ausdruck eines Horrors, der die meisten weißen angelsächsischen Protestanten Amerikas angesichts der Slums von New York befiel. 35 Jahre davor hatte der Däne Jacob Riis "How the Other Half Lives" herausgebracht, einen Fotoreport über die lichtlosen Elendsquartiere. Wo Lovecraft die Ängste seiner Leser aufruft, hatte Riis an ihr Mitleid appelliert. Und während das bürgerliche New York die Slums als Brutstätten des Verbrechens weiter in erster Linie mied, predigten ein paar Philanthropen besseres Wohnen für die Unterschichten. Man nannte diese Leute housers.

Diese Geschichte handelt nicht nur von Jemini. Sie handelt auch von Tay. Und von Megan, die die beiden sehr unterschiedlichen Jungs aus der Schule kennt. "Die Kugeln waren nicht für die bestimmt", wird Tay später sagen, Jemini und seine Freunde waren Zufallsopfer. Anders als Jemini wohnt Tay, 18 Jahre alt, tatsächlich in den Red Hook Houses. In den Tagen danach besorgt er sich einen Colt Cobra .38, eine ziemlich kleine Waffe für ziemlich große Löcher. Woher? "Von Leuten." Für wie viel? "Hab dafür nicht bezahlt." War er das eigentliche Ziel? Schulterzucken. "Ich würde sagen, eine Menge Leute waren ein Ziel. Nur nicht die, die es abgekriegt haben."

Was den Housers wie den Architekten an ihrer Seite zentral vorkam, waren Licht und Luft: Die Tuberkulose fraß sich durch die Unterschichten. Wie aber baut man so, dass alle Zimmer ins Freie schauen? Sie fanden ihre Beispiele in Deutschland und Österreich. Der Wiener Karl-Marx-Hof, eine der berühmtesten Wohnanlagen, wurde auf der Lower East Side nachgeahmt. Mit den Formen wurde ein Material importiert: der rote Backstein, der zugleich die Wände bildet und die Ornamente. Das American Institute of Architects lobte die "Abschaffung bedeutungsloser Verzierungen und die Aufrichtigkeit, mit der die Bauelemente selbst genutzt wurden, um ein ästhetisches Ergebnis zu erzielen".

Als Jemini angeschossen wird und Tay einen Revolver anschafft, steht "Between the World and Me" von Ta-Nehisi Coates frisch in den Läden - ein Buch, in dem es um "crews" geht, die durch ihre Viertel marodieren, um sich stark und sicher zu fühlen, und um die "Kultur der Straße": "eine Kultur, die in erster Linie dazu dient, den eigenen Körper zu schützen". Für Coates beginnt diese Geschichte hier nicht mit den Häusern, sondern mit den Sklavenschiffen. Er fordert Wiedergutmachung von Amerika, und Amerika versucht sie zunächst einmal dadurch zu leisten, dass es sein Buch zum Bestseller macht.

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(Foto: Roderick Aichinger)

Keine zwei Wochen nach den Schüssen in der Dwight Street läuft auf dem Bezahlsender HBO die Fernsehserie "Show Me a Hero" an. Sie erzählt die wahre Geschichte, wie die Stadt Yonkers in der Nähe von New York vor noch nicht allzu langer Zeit gezwungen wurde, Gebäude wie die Gowanus und die Red Hook Houses zu errichten, um die faktische Rassentrennung aufzuheben. Der deutsche Begriff dafür wäre: sozialer Wohnungsbau.

Währenddessen baut das New Yorker Stadtmuseum zwei Herbstausstellungen auf, eine über die Slums und eine über das, was die Slums ersetzen sollte: Housing Projects der New York City Housing Authority. Diese Behörde wird NYCHA abgekürzt und wie ein Frauenname gesprochen: Neitscha. Manche New Yorker sprechen von Nychaland, einer Stadt in der Stadt mit 600 000 Menschen. Die meisten sagen einfach: the projects. Der Begriff meint in New York aber mehr als nur die Häuser. Der Begriff ist eine Diagnose. Er meint: Schwarze und Hispanics. (Obwohl Jemini und Tay sagen, dass ziemlich viele Chinesen dazugekommen seien.) Er meint: Sozialhilfe. (Obwohl die NYCHA angibt, nur knapp 12 Prozent lebten von der Stütze, der Rest arbeite oder verzehre Pensionen.) Er meint: alleinstehende Mütter. (Obwohl Tay wie Jemini sagen, dass sie ihre Väter nicht vermissen.) Er meint, dass Gangs und Waffen die Väter ersetzen. Er meint oft auch, dass die Projects die Probleme selbst hervorbringen, von denen sie gebeutelt werden.

Der Wille der Reformer zu mehr Luft und mehr Licht machte zwangsläufig den alten rechtwinkligen Straßenblock zum Feind. Die Deutschen stellten ihre Sozialwohnungen längst in Zeilen hintereinander. Und in Paris zeichnete der Architekt Le Corbusier im Grundriss x-förmige "Türme in einem Park". In einer Stadt, in der sonst nur der Park das Raster der Türme unterbricht, war man elektrisiert. Es bräuchte nur einen Bauherrn, der mächtig genug wäre...

Am 2. September um 6:45 Uhr morgens stürmen Beamte vom 67. Polizeirevier in Süd-Brooklyn in die Wohnung, in der Tay mit seiner Mutter und seiner Schwester lebt. Während er in den Streifenwagen gebracht wird, finden sie in seinem Zimmer die Waffe. Tay kommt auf Rikers Island in Untersuchungshaft.

Es hatte den Börsencrash von 1929 gebraucht, die Weltwirtschaftskrise, die Massenarbeitslosigkeit, um auch in den USA den Staat so zum Akteur werden zu lassen wie in vielen europäischen Ländern. Auch New York baute nun Wohnungen für Menschen am Existenzminimum. Die Häuser waren groß, und ihre roten Backsteinfassaden strahlten Solidität aus, aber auch Sparsamkeit. Und sie standen in Parks. Jedenfalls waren sie von Grün umgeben, und manchmal stellte sich die neue, hygienische Stadt auch ganz förmlich quer zu den alten Slums drumherum. Die roten Backsteinsiedlungen von New York wurden, auch in ihrem Äußeren, zum Vorbild für das ganze Land. 1937 nahm die Regierung in Washington gleich selber das Heft in die Hand: Eine Bundesbehörde wurde ins Leben gerufen, die den lokalen Sozialwohnungsbau finanzierte und lenkte. Das erste Project, das mit ihren Mitteln in New York City errichtet wurde, waren die Red Hook Houses in Brooklyn.

Megan ist gerade noch 17, als auf Jemini geschossen wird, und als Tay ins Gefängnis kommt, der ebenfalls ein Schulfreund von ihr ist, vielleicht noch etwas mehr. Megan wohnt nicht in Red Hook, sondern drei Kilometer östlich in South Slope. Ihre Familie stammt aus Südamerika und dem Nahen Osten und gehört zu den letzten Alteinwohnern in dem rasch gentrifizierten Viertel. An dem Tag, an dem sie 18 wird, dreht sich bei ihr alles darum, das Geld für Tays Kaution zusammenzubekommen. Sie arbeitet als Verkäuferin, als Babysitter. Sie spart und sammelt bei Bekannten. Seine Familie, sagt Tay, hat das Geld nicht. Mithäftlinge erklären ihm, was ein "dummy date" ist: Sein Gerichtstermin ist bewusst erst einmal in unabsehbarer Ferne angesetzt, um zur Zahlung der Kaution zu motivieren. Die Kautionsagentur, an die Megan sich wendet, handelt die Kaution von 10 000 Dollar auf 1800 runter. Nach zweieinhalb Wochen Haft hat sie das Geld zusammen. Tay darf gehen. Prompt wird sein Gerichtstermin um zwei Monate vorverlegt.

New York: Jung sein in Red Hook: (v. l.) Megan, Tay und Jemini.

Jung sein in Red Hook: (v. l.) Megan, Tay und Jemini.

(Foto: Roderick Aichinger)

Am 1. Juni 1936, einem Donnerstag, zogen um 21 Uhr die ersten Mieter in die Red Hook Houses, "jeder von ihnen überschäumend vor Aufregung über die Aussicht auf glänzende neue Kühlschränke und Gasherde", wie die New York Times vermerkte. Etliche Straßen waren planiert worden, damit die sechsgeschossigen Türme in einem Park stehen konnten, Grün und Sportanlagen belegten drei Viertel der Fläche. Die Häuser zeigten in der Aufsicht eine Kombination aus X- und H-Formen. Besonders erwähnenswert war der Presse, dass sie am Ende viel weniger gekostet hatten als geplant: 18 Millionen Dollar statt 40.

Megan kann nicht fassen, dass Jemini noch im Krankenbett Witze über seine Wunden macht und eine Woche nach der Entlassung schon Basketball spielt. Sie sagt: "Crazy!" Jemini wiederum sagt: "Ich bin kein trauriger Typ. Selbst wenn so was Furchtbares passiert, versuche ich rauszufinden, wie ich wieder happy sein kann." Er sagt sogar, er sei ein besserer Mensch geworden, er nehme die Schule jetzt ernster. Will er keine Rache? "Nö." Kennt er die Namen der Täter? "Habe ich vergessen. Waren sicher in den Nachrichten."

Tay wiederum hat nach seiner Heimkehr sehr wohl das Bedürfnis, den Namen desjenigen zu erfahren, der ihm das angetan hat. Jemand hat die Polizei angerufen und von der Waffe erzählt. Tay würde gern wissen, wer. Er sagt: "Gesetz der Straße ist: Du darfst niemanden bei der Polizei verpetzen. Mich hat jemand verpetzt." Früher oder später werde er herausfinden, wer das war. Und dann? "Weiß ich noch nicht." Megan nennt auch ihn: "crazy".

Die Red Hook Houses waren ein reines Kostensparprogramm", urteilt Nicholas Dagen Bloom vom New York Institute of Technology. Das Architektenteam wurde von einem Mann mit dem sprechenden Namen Alfred Easton Poor geleitet. Die ursprünglich großzügiger geplante Grundfläche der Zimmer wurde verringert, die Einbauschränke erhielten überwiegend nur Vorhänge, und zwischen Küche und Wohnzimmer wurde die Tür eingespart. Außerdem hielten die Fahrstühle nur jeweils im zweiten, vierten und sechsten Stock. In amerikanischen Gebäuden zählt das Erdgeschoss als erster Stock, nach deutschen Begriffen haben diese Häuser also fünf Obergeschosse. Dass sie nicht höher wurden, obwohl es immerhin Fahrstühle gab, lag am New Yorker Baurecht, das ab sieben Geschossen mehr Brandschutz verlangte. Flacher zu bauen, hätte wiederum die Kosten für Fundamente, Dachflächen, Korridore erhöht. So wurden die Red Hook Houses durch Kostenerwägungen geformt. Bis dahin hatten alle Bemühungen immer der Hebung der Wohnstandards gegolten. Seit Red Hook war die Verringerung der Baukosten das Ziel.

In Tays Block hält der Fahrstuhl inzwischen auch im fünften Stock, und er riecht nicht nach Urin, sondern nach Reis und Huhn, nach chinesischem Take-out in Styroporbehältern. Auf der vandalismussicher verkachelten Treppenhauswand glänzt der Müllschlucker wie ein Schmuckstück. Neben der Klappe lehnt ein Exemplar des akademischen Sachbuchs "More Than Just Race" von William Julius Wilson. Der Soziologieprofessor aus Chicago, selbst ein Afroamerikaner, diskutiert darin die Frage, ob die Armut unter den Schwarzen in den USA nur eine Folge von Rassismus ist oder ob ihnen auch bestimmte kulturelle Muster, genauer: eigene Verhaltensweisen, im Weg stehen.

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Wer mag das Buch da hingestellt haben - und warum? Als Kommentar? Oder ist der Müllschlucker der Kommentar? Tay zuckt mit den Schultern.

Die Gowanus Houses bestehen aus 14 Gebäuden in X- und Z-Form. In 1134 Wohnungen wohnen 2836 Menschen. Sie wurden 1949 eingeweiht und liegen am Ende des Gowanus-Kanals, der als eines der schmutzigsten Gewässer der USA gilt und bei Red Hook ins Meer mündet. Die Gowanus Houses und die Red Hook Houses sind weniger als zwei Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Zu ihrer Bauzeit ragten die beiden Projects über ihre Umgebung hinaus: Moderner, grüner, besser ausgestattet als alles dazwischen.

Am Tag vor seinem Gerichtstermin sitzt Tay zu Hause und ist nervös. Die Sache mit der Waffe war ein Fehler, sagt er kleinlaut. Jedenfalls spricht er sehr leise. Gleichzeitig möchte er dem Eindruck entgegentreten, dass er Angst gehabt habe. "Im Ernstfall wäre ich bereit gewesen. Entweder die oder ich." Über ihm steht an der Wand in schnörkeliger Schrift "Our family". Die Mutter ist so fettsüchtig, dass sie das Doppelbett, dessen Fläche sie fast ausfüllt, nur mit Mühe verlassen kann; sie ruft in ihrem Zimmer vom Bett aus nach Tay. Er erklärt ihr, dass er dem Besuch kurz das Viertel zeigen geht. Dann zieht er die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und öffnet die Tür, die seit der Polizeidurchsuchung schief in den Angeln hängt.

Dass die Projects der NYCHA von oben aussehen wie eine über der Stadt ausgekippte Buchstabensuppe, dass also die Wohntürme mal die Form eines X, eines Z oder aber eines Y haben, das hat mit dem Bestreben zu tun, möglichst viele Wohnungen mit Blick ins Freie so um einen Lift zu arrangieren, dass möglichst wenig Raum für Korridore verschwendet wird: Form follows Fahrstuhl. Das sorgte für prägnante Gebäude, die unter New Yorks Stadtarchitekt Robert Moses oft stolz direkt neben die neuen Stadtautobahnen gestellt wurden, welche er wiederum gezielt durch die alten Slums pflügen ließ. Dieser Stolz wurde aber nicht immer geteilt. Der Architekturkritiker Lewis Mumford lästerte am 6. Mai 1950 im New Yorker über "backsteinerne Bienenwaben". Auch in der NYCHA selbst gab es Unbehagen. Ein Vorstandsmitglied stellte 1951 die Frage: "Können wir nicht wenigstens Backstein in verschiedenen Farben haben?"

Tay sagt, es gebe nun einmal einen "beef", einen Konflikt, zwischen Red Hook und Gowanus. Worum es geht bei diesem "beef"? "Den gab es schon, bevor ich geboren wurde. Wenn man aufwächst, führt man den fort." Was kann dabei gewonnen werden? "Nothin'." Wenn er hört, dass Außenstehenden das irgendwie mittelalterlich vorkommt, wie der Krieg zwischen zwei Festungen, die über die Jahrhunderte vergessen haben, worum es überhaupt geht, dann muss er schmunzeln. Kurz.

"Slums stehen für Krankheit und Kriminalität", schnarrt im Stadtmuseum ein Mann aus einem Fernseher. "Die neuen Projects stehen für Gesundheit und Glück." Der Mann heißt Robert Wagner und war von 1954 bis 1965 Bürgermeister von New York. Vier Jahre nach seinem Amtsantritt - also zwanzig nach Bezug der Red Hook Houses - schreibt Harrison Salisbury, damals der namhafteste Reporter der New York Times: "Nirgendwo diesseits von Moskau wird man soviel Sozialwohnungsbau finden, der exakt das Elend dupliziert, das er ersetzen sollte." Die alten Slums seien schlimm gewesen, hätten aber immerhin urbane Strukturen gehabt. Er zitierte einen Sozialarbeiter mit den Worten "wo immer die Muster des Lebens wegbrechen, bilden Kids Gangs, um sich selbst ein Gefühl von Schutz und Stabilität zu verschaffen".

Und der Leiter des Community Centers in den Red Hook Houses erklärte Salisbury, dass die ersten Mieter dort meist jüdisch waren und harte Auseinandersetzungen mit den irisch- und italienischstämmigen Alteinwohnern von Red Hook hatten, die von den Kindern gewaltsam ausgetragen wurden. Inzwischen habe sich die Bewohnerschaft der Red Hook Houses komplett geändert, sei schwarz und puertoricanisch, aber die Feindschaft lebe weiter. Wo immer acht Jugendliche an einer Ecke zusammenstünden, würde die Polizei sie vertreiben. Ein Mann vom Jugendgericht sagte: "Die Erfahrung zeigt, dass in den ersten sechs bis 18 Monaten eines neuen Housing Projects die Zahl der Straftaten grundsätzlich nach oben geht."

Es ist Abend geworden, und vor den Häusern rattern laut die Generatoren der mobilen Flutlicht-Masten; Flak-Scheinwerfer tauchen einen verwaisten Kinderspielplatz in grelles Licht. Die NYCHA-Sprecherin sagt, die Lichtanlagen sind Teil einer Initiative des Bürgermeisters, um die Kriminalität in den 15 Projects mit den meisten Gewaltverbrechen zu reduzieren. Die Red Hook Houses gehören dazu. Vom Police Department kommt eine dürre Mail: Zur eigenen Sicherheit wie vor allem zur Sicherheit der Beamten sei es leider nicht möglich, im Project mal mit auf Streife zu gehen.

Die Literatur zum Thema ließe sich selber zu x-förmigen Türmen stapeln. Titel wie "Behind Ghetto Walls" oder "American Apartheid" legen den Eindruck nahe, dass die Projects von Anfang an dazu dienten, Afroamerikaner von den weißen Mittelschichten zu separieren. Jedenfalls in New York wurden die meisten Projects aber zunächst von Weißen bewohnt. Lloyd Blankfein, heute Chef von Goldman Sachs, ist in einem aufgewachsen, den Linden Houses in Brooklyn. 1940 lebten in den Red Hook Houses 32 schwarze unter 2513 weißen Familien. Ein Verwalter der NYCHA gab damals aber zu Protokoll, dass die handverlesen waren. Es sollten Mustermieter sein, die den Musterwohnungen gerecht wurden. Zur Sicherheit wurde das "System der freundlichen Mieteintreiber" etabliert: Frauen, die wöchentlich hereinschauten, um das Geld einzusammeln und bei der Gelegenheit nach dem Rechten zu sehen. Sofort revoltierten Mietervertreter dagegen. Man wohne nicht in einem KZ.

New York: Die Red Hook Houses waren die US-Variante des europäischen sozialen Wohnungsbaus. Heute sind sie der letzte Anker von Geringverdienern in einer radikal gentrifizierten Stadt.

Die Red Hook Houses waren die US-Variante des europäischen sozialen Wohnungsbaus. Heute sind sie der letzte Anker von Geringverdienern in einer radikal gentrifizierten Stadt.

(Foto: Roderick Aichinger)

Als die freundlichen Kontrolleurinnen abgeschafft wurden, vermissten andere sie allerdings und forderten sie zurück. In dem Maß, in dem erfolgreichere Mieter sich aus den Projects herausarbeiteten, zogen weniger leistungsstarke nach und änderten das Bild. 1953 reagierte die NYCHA für eine Zeit lang mit einem "Moralkodex", der unter anderem alleinstehende Mütter ausschloss und Leute mit unsteten Arbeitsverhältnissen. Am Ende der Fünfziger galten die Projects dann aber bereits als Auffangstationen für die sozial Schwächsten, während die, die es sich irgendwie leisten konnten, vor der Gewalt der Gangs, vor Vandalismus und Vergewaltigung flohen. In den folgenden Jahrzehnten kamen dann als Hauptproblem der Projects noch die Drogen dazu.

Tay begrüßt ein paar Kumpel, die auf der Bank vor dem Haus hocken. "Etwas, von dem man denken sollte, das wir das tun dürften in unserer Nachbarschaft: auf Bänken sitzen." Aber abends werden sie regelmäßig von den Cops vertrieben. Wenn man Tay bittet, "Stop and Frisk" mal vorzuführen, zögert er kurz. Die Polizeitaktik, Jugendliche überfallartig nach Waffen abzusuchen, gilt als Schlüssel für die gesunkene Mordrate in der Stadt, und sie gilt, weil es meistens Schwarze und Latinos traf, als rassistisch. Als er es dann urplötzlich doch vorführt, lernt man zweierlei: Wie rabiat und beschämend das Vorgehen ist, zumal schon jedes Zurückzucken als "Widerstand" gewertet werde. Und was für eine explosive Kraft in diesem leise vor sich hinnuschelnden Jungen steckt.

"City of guns", das "Ende der Welt" oder "Elend mit Aussicht" (nämlich auf Manhattan) seien die gängigen Namen für Red Hook, schrieb der Fotograf Eugene Richards 1994 in "Cocaine True, Cocaine Blue", seinem legendären Fotobuch zum New Yorker Drogenelend. Trotz seiner schlimmen Reputation sehe das Project aber weniger bedrückend aus als seine Umgebung. "Dichte Bäume brechen die Monotonie der roten Ziegelgebäude, und Kinderspielplätze stehen in den Höfen. Wenn du die Dealer nicht nachts mit eigenen Augen gesehen hättest, und die Junkies, zusammengesackt auf den Treppen, dann ist es nicht ganz einfach, sie sich hier vorzustellen. Aber die Dealer sind immer hier." Vier Jahre davor, 1990, kürte die Zeitschrift Life Red Hook zur "Crack-Hauptstadt" der USA und einer der schlimmsten Nachbarschaften des Landes. Sechs Jahre später wurden Tay und Jemini geboren.

Wenn man mit Tay durch die Red Hook Houses läuft, wird alle drei Meter eine Hand abgeklatscht und ein Gruß gemurmelt. Er ist sichtbar und gerne: wieder zu Hause.

Wenn man mit Jemini und seiner Mutter über das Viertel redet, ist die Freude, in Red Hook zu sein, weniger groß. Jetzt war er in der Presse. Jetzt wissen sie überall, wo er herkommt, jetzt sei das Leben für ihn gefährlicher geworden. Jederzeit könne irgendwo einer sagen: Bist du nicht aus Red Hook? Und dann setzen sie ihm zu. Warum eigentlich? Ist das so wichtig, wo einer wohnt? "Für mich nicht, aber für die." Er würde gern Manager werden, sagt er. Oder, vielleicht noch lieber, Basketballtrainer. Aber er würde auch am liebsten wegziehen aus dieser Gegend, die mehr Basketballplätze hat als die besseren Viertel von Brooklyn zusammen. Er würde am liebsten raus aus dieser Stadt, auf ein College irgendwo in den ländlichen Teilen des Staates New York. Er würde wohl ein Stipendium bekommen, seine Noten sind gut.

New York: Neun Kugeln haben Jemini getroffen. Er wolle keine Rache, sagt er, er wolle nur weg von hier.

Neun Kugeln haben Jemini getroffen. Er wolle keine Rache, sagt er, er wolle nur weg von hier.

(Foto: Roderick Aichinger)

1972 wurde in St. Louis die von Kriminalität und Verwahrlosung verwüstete Hochhaussiedlung Pruitt Igoe gesprengt; das Fernsehen übertrug. Es war eine Genugtuung für alle, die das Projekt der Projects gescheitert sahen, und für alle, denen eine Fürsorgepolitik dieser Sichtbarkeit ohnehin unamerikanisch vorkam. Von diesem Moment an ging eine Abrisswelle über das Land, als könne man sich mit den Häusern auch der Probleme ihrer Bewohner entledigen. Nur New York, kurz vor dem Bankrott stehend, hielt an den Projects fest. Im selben Jahr setzte allerdings der Architekt Oscar Newman seine Theorie vom "Defensible Space" in die Welt, und die NYCHA folgte zum Teil seinen Ideen, wie man Treppenhäuser und Freiräume kontrollierbar und sicher machen könne. Diese Eingriffe waren eine "Großkatastrophe", urteilt der Siedlungsforscher Nicholas Dagen Bloom: Sinnlos große Zäune wurden gezogen und die Projects bekamen erst recht eine repressive Anmutung. In der Tat glichen Newmans Rezepte auffällig dem, was Michel Foucault zur gleichen Zeit in seiner Gefängnisstudie "Überwachen und Strafen" beschäftigte.

Jeminis Mutter kommt aus der Karibik und ist in der Bronx aufgewachsen, und die Bronx war schon nicht ohne. Aber Red Hook findet sie schlimmer. Sie beklagt, dass es keinen Kontakt gibt zwischen den Schwarzen im Project und den vollbärtigen Weißen, die den hafenseitigen Teil zu einem Künstlerviertel gemacht haben. Die beiden Welten liegen nur zwei Querstraßen voneinander entfernt. In Red Hook sei die Rassentrennung aufgehoben, sagt sie, und gleichzeitig sei sie unüberwindbar. "An den Straßenecken rumstehen und Drogen nehmen, das passiert leider nur hier, wo wir leben. Ich will nicht sagen, dass die Weißen da drüben keine Drogen nehmen. Aber die gehen arbeiten."

Jemini sagt, man könne immer von Anfang an sehen, mit wem es bergab geht. "Mit dem Kiffen fängt es an, immer." Deshalb kiffe er nicht, er spielt Basketball. Und - hat ihn das vor den Kugeln geschützt?

Deshalb will er, genau wie seine Mutter, weg von hier.

"Welcome to Red Hook Houses" hieß 2008 ein Album der Rapper Hell Razah und Shabbazz the Disciple, die sich für diese Platte unter dem Namen T.H.U.G. Angelz zusammengetan hatten. Das Project wird als "Hochsicherheitsgefängnis" beschrieben und das bewaffnete Mafiatum der Gangs wird - fast unübersetzbar - besungen: "When we pull it we use it, when we use it we mean it. We keep a bullet for those who cross us and talkers who seen it." Zu dem Zeitpunkt lag der letzte große Schlag der New Yorker Polizei gegen die Drogenstrukturen von Red Hook, die sogenannte "Operation Off the Hook", bereits zwei Jahre zurück, New Yorks erster Ikea-Markt machte die abgelegene Gegend zum Ziel von Tausenden, und Richtung Hafen gab es jetzt Ateliers, Restaurants, steigende Immobilienpreise. Der Gangsta-Rap auf "Welcome to Red Hook Houses" wirkte beinahe wie ein letzter Versuch, die Makler und ihre Kunden mit Geschichten von früher abzuschrecken.

Tays Facebook-Persona ist inszeniert wie ein Rap-Video: Profilfoto mit Bandana um den Kopf, Bilder von Marihuanahaufen und Dollar-Bündeln. Das ist möglicherweise ein Problem, seit Polizei und Justiz im Internet mitlesen: Die könnten so etwas wörtlich nehmen. Auch beim Spaziergang durch seine Hood schwankt Tay merklich zwischen dem in Hinblick auf seinen Gerichtstermin sicherlich angeratenen Narrativ "Ich hab ein paar Dummheiten gemacht" - und Produktionsstolz auf diese Dummheiten: Früher habe man als Auswärtiger hier nicht so ungeschoren durchgehen können. Ja, auch seinetwegen. "Ich habe viel gekämpft." Seit der ersten Klasse eigentlich. Und seit der dritten keinen Kampf mehr verloren. "I swing first", ich schlage zuerst. Und man mache es entweder mit der Faust oder mit der Knarre, "we don't play with knives", mit Messern geben sie sich nicht ab. Er hat einen Gerichtstermin vor sich und seine ganze Welt im Nacken. Diesem Dilemma begegnet er mit einer auch im Hip-Hop oft anzutreffenden Lösung: Durch einen Gestus des altersweisen Rückblicks. Mit 17 werde man ruhiger, sagt also Tay. Wer mit Ende zwanzig noch so drauf ist, sei wirklich übel.

New York: Megan glaubt, dass auch die Architektur schuld ist an der sinnlosen Gewalt in den Sozialwohnanlagen.

Megan glaubt, dass auch die Architektur schuld ist an der sinnlosen Gewalt in den Sozialwohnanlagen.

(Foto: Roderick Aichinger)

Reiche Leute werden niemals in die Nähe der Projects ziehen, sagte Elliott Sclar, Professor für Stadtplanung an der Columbia University, 1991 einem Immobilien-Spezialisten der Times. Im Herbst 2015 sind sich die Fachleute uneinig, ob ein Project den Wert eines Hauses direkt daneben noch so mindert, wie das unter anderen die Bewohner von Yonkers in der Serie "Show Me a Hero" befürchten. Der These, dass eine unsichere Nachbarschaft immer den Wert mindert, steht ein Preisdruck gegenüber, der sich in New York nicht einmal mehr von Kriegen zwischen bewaffneten Gangs beeindrucken lässt. Sie habe noch nie gehört, dass ein Interessent wegen eines Projects zurückgeschreckt sei, teilt Robyn Kammerer von der Maklerfirma Halstead mit. Wenn heute Leute Angst haben, dann die in den Projects: Angst, dass ihre subventionierten Wohnungen von New Yorks gefräßigem Markt eines Tages geschluckt werden könnten. Kammerer: Absolut unwahrscheinlich. Man müsste die Wohnungen auch deutlich modernisieren. "Aber wenn, dann ist natürlich die Lage alles." Und wo gibt es heute noch schlechte Lagen, wenn selbst die Nähe zu einem Project keine mehr darstellt?

Megan sagt: Die Jungs in den Projects haben sich nicht im Griff. Aber sie müssten auch irre werden in dieser Umgebung: Zusammengepfercht in den Türmen, erdrückt von Müttern, denen sie den Mann ersetzen müssen. "They love harder", sagt Megan. Die Jungs müssten sich an anderen Jungs orientieren, den Jungs, die draußen zwischen dem weggezäunten Grün den Ton angeben. Sie sagt Dinge, die man in soziologischen Studien finden kann, und Dinge, die liberale Weiße lieber in dem raunenden Gesamtzusammenhang des Begriffs "the projects" verstecken, weil sie Angst haben, sonst wie die Rechtsaußen auf Fox News zu klingen. Aber Megan ist keine blonde Fox-News-Moderatorin und sie liest keine akademischen Studien, sie ist die Freundin eines Jungen aus den Projects, der morgen früh vor Gericht muss. Ihre Freunde in den Red Hook Houses nennen sie "Father Megan". Sie überlegt ernsthaft, hier Polizistin zu werden, damit sich was ändert. Tay weiß nicht recht. "Man sollte das nicht aus den falschen Gründen werden wollen."

Nicholas Dagen Bloom ist der Mann, der am meisten über die New Yorker Projects geschrieben hat. Wenn man ihn fragt, ob die Architektur der Projects und ihre abgesonderte Lage mitten im Geflecht der Stadt schuld seien am Stigma der Bewohner, dann sagt er, er glaube nicht daran, dass Design schicksalbestimmend sei. Man könne sicher sagen, die offene Anlage der "Türme im Park" mache es schwerer, sie vom Polizeiwagen aus zu überblicken als konventionelle Straßenblocks. Treppenhäuser eigneten sich auch als Verstecke, und Fahrstühle könnten Orte sein, um jemanden auszurauben. "Aber alle diese Elemente funktionieren völlig problemlos in ähnlichen Anlagen für Mieter mittlerer und oberer Einkommensklassen."

Wollen denn nicht alle am liebsten raus aus den Projects? Jemini schüttelt den Kopf. "Die Leute sagen, dass sie rauswollen, aber gleichzeitig tragen sie zu dem Elend bei, von dem sie wegwollen", sagt er. "Diese Leute beklagen sich über die Gewalt, aber im tiefsten Herzen finden sie es geil, denn das ist es, was sie wollen: Action haben." Megan hat Tay angeboten, bei ihrer Familie miteinzuziehen. Er will nicht weg.

Barry Bergdoll, der Architekturkurator des Museum of Modern Art, lächelt bitter, wenn es um das Thema Projects geht. Seit Jahrzehnten habe man die Diskussion, dass diese Häuser von Übel seien und wegmüssten. Und jetzt, wo sie nicht mehr gebaut, in anderen Städten gar abgerissen werden, jetzt sei geradezu eine Nostalgie nach den Zeiten ausgebrochen, als der Staat noch Geld in die Hand nahm, um seinen Einkommensschwachen ein Obdach zu bauen. Man setzt heute eher auf die Macht von Genehmigungsverfahren und Steueranreizen für private Bauherren. Als jetzt ein Bauherr in einem Luxuswohnturm auf der Upper West Side auch einen Flügel mit Sozialwohnungen vorsah, gab es allerdings Protest gegen die separate "Poor Door" ohne Marmor und teuren Pförtner. Weil "poor" in den USA noch immer oft mit "black" assoziiert wird, und alles, was nach Segregation riecht, alte Wunden aufreißt.

New York: Vielleicht muss Tay bald in den Knast. Er habe viel gekämpft, erzählt er, und er habe schon lange keinen Kampf mehr verloren. Von der Polizei fühlt er sich schikaniert - aber Red Hook verlassen? Das will er nicht.

Vielleicht muss Tay bald in den Knast. Er habe viel gekämpft, erzählt er, und er habe schon lange keinen Kampf mehr verloren. Von der Polizei fühlt er sich schikaniert - aber Red Hook verlassen? Das will er nicht.

(Foto: Roderick Aichinger)

Am Morgen seines Gerichtstermins ist Tay Punkt 10 Uhr im Supreme Court von Brooklyn. Sein Pflichtverteidiger sagt, er wolle erreichen, dass Tay vor ein Jugendgericht kommt, wo er sich schuldig bekennen kann, ohne automatisch eine Vorstrafe zu erhalten, die ihm später die Chancen auf einen vernünftigen Job nimmt. So geht das auch beim folgenden Termin Anfang Dezember. Jedes Mal fragt sich Tay, ob er anschließend ins Gefängnis muss, und immer packen alle nach wenigen Minuten schon wieder die Akten zusammen.

In den Projects von New York wohnen nach Schätzung der NYCHA 600 000 Menschen - so viele wie in Düsseldorf. Rund 270 000 stünden auf der Warteliste. Das ist die Einwohnerzahl von Wiesbaden. Bürgermeister De Blasio, der nur ein paar Straßen entfernt von Megan zu Hause ist, hat diesen Sommer das Ziel ausgegeben, subventionierten Wohnraum für 200 000 Haushalte mit extrem geringem bis mittlerem Einkommen zu schaffen. Und mittleres Einkommen heißt in New York immerhin zwischen 104 000 und 200 000 Dollar pro Jahr. Die meisten Düsseldorfer und Wiesbadener hätten in New York Anspruch auf eine Sozialwohnung. Überhaupt die meisten Deutschen.

So endet diese Geschichte ohne Ende. Jemini ist noch nicht weggezogen. Tay muss weiter bangen, dass er wegmuss, in den Knast. Und eigentlich ist es Megan, die bangt.

Mitte November wird bekannt, dass der Staat in allen staatlich subventionierten Wohnungen das Rauchen verbietet. Nicht nur das Kiffen, das sowieso. Das Rauchen. Anders als zu den Zeiten der freundlichen Mieteintreiberinnen wird gegen die Bevormundung in den eigenen vier Wänden nur zaghaft protestiert. Immerhin schließlich: vier Wände in dieser Stadt. Das ist es, was zählt.

"Black Lives Matter", die Protestbewegung gegen die oft tödliche Durchgriffsmentalität der Polizei gegenüber Schwarzen, ist ein Jahr alt, als auf Jemini geschossen wird, und wird nun als neue Bürgerrechtsbewegung verstanden. Ta-Nehisi Coates hat inzwischen den National Book Award verliehen bekommen für das Buch, in dem er erklärt, dass auch die Gewalt eines schwarzen Polizisten weißer Rassismus sei. Von Spike Lee, dem Regisseur, der auch schon mal in Red Hook gedreht hat, kommt "Chi-Raq" ins Kino, darin vergleicht er die Gewalt zwischen schwarzen Jugendlichen mit dem Peloponnesischen Krieg. Bill Bratton, der Polizeipräsident, erklärt zum Jahresende in der Presse, dass fast die Hälfte aller Gewaltverbrechen mit Schusswaffen in New York von Gangs und "Street Crews" verübt werden, denen es oft um nichts anderes gehe als um den Beweis von Männlichkeit. 375 solcher Gruppen kennt die Polizei. Die meisten, 130, in Brooklyn. Fast alle in den Projects.

Und im fernen Europa macht man sich Gedanken über die Banlieues von Paris und die Großsiedlungen am Rand der deutschen Städte, wo die Projects von New York, vermittelt durch Rap-Videos, seit jeher als Folie für die Selbststilisierung als Ghetto dienen - bis der militante Islamismus für manche halt die noch geilere Option wird. Die Analysen, wonach ihre Wohnsituation den "Ghetto"-Kindern gar keine andere Wahl gelassen habe, sind der Welt bereits gewiss.

Aber das hier ist das Leben und die Geschichte von Jemini und Tay aus Red Hook in Brooklyn. Jemini hat Coates jedoch nicht gelesen. Für ihn ist die Frage, was wovon die Folge ist, eher klar: Wer sich von der Polizei schikaniert fühle, habe in der Regel auch irgendwas ausgefressen. "Ich bin in meinem ganzen Leben, ob man es glaubt oder nicht, noch kein einziges Mal von den Cops angehalten worden. Noch nie." Die Schüsse, die er abbekommen hat, stammten jedenfalls nicht aus der Waffe eines Polizisten.

Auch Tay meldet Protest an, wenn man ihm mit strukturellem Rassismus kommt, ausgedrückt in seinen Wohnverhältnissen. Er reagiert dann, als würde man ihm das Einzige nehmen wollen, das er hat. Wenigstens an der Autorschaft seiner Jugendsünden wird er ja wohl ein Anrecht haben: "I don't blame it to where we're from", er weigert sich, Sklave seiner Herkunft zu sein. Es zwingt uns keiner zu dem Mist, sagt er: "We do that shit by choice."

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