Jetzt also auch noch Nordrhein-Westfalen. Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr löst ein Landtag sich auf, wieder wird es vorgezogene Wahlen geben. Das Saarland, mit Verlaub, wer fragt noch nach dem Saarland? Ja, es ist durchaus interessant, wie dort die Wähler beurteilen werden, dass CDU, FDP und Grüne nur vorübergehend zusammenfanden. Aber das Saarland hat ungefähr so viele Wahlberechtigte wie die Stadt Köln.
Nun wird die Republik nach Nordrhein-Westfalen schauen, auf das Bundesland, in dem fast jeder vierte Einwohner Deutschlands lebt, in dem ein Fünftel der Wirtschaftsleistung entsteht. An einem Sonntag im Mai wird abgestimmt - und zwar beileibe nicht bloß über die Frage, wie sich zu Düsseldorf der Landtag zusammensetzt. Sondern auch über ein Regierungsmodell. Und über die Zukunft der Bundesregierung.
Zu Ende gegangen ist am Mittwoch eine rot-grüne Minderheitsregierung, die sich selbst die bezaubernde Bezeichnung "Koalition der Einladung" verliehen hatte. Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Minderheitsregierungen in Deutschland erstens eine Ausnahme sind und ihnen zweitens allgemein mit Misstrauen begegnet wird. Das Kabinett der SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft war erst das achte in der Geschichte der Bundesrepublik, das von vornherein als Minderheitsregierung ins Amt kam. Auf der Ebene des Bundes gab es diese Konstellation noch nie.
Zum Stichwort "Minderheitsregierung" fällt den meisten Deutschen eher nicht ein, wie segensreich eine solche doch für die Demokratie sein könnte, theoretisch zumindest: weil die Regierenden in dem Fall für ihre Politik doch wirklich werben müssen; weil dadurch Sachdebatten entstehen, wie sie unter den Bedingungen einer herkömmlichen Koalition nie nötig wären; weil so alle Parteien mal etwas durchsetzen können, auch jene, die gerade nicht an der Regierung sind.
Beim Stichwort "Minderheitsregierung" denken viele Deutsche vielmehr an die Weimarer Republik, die in ihren 14 Jahren 20 Kabinette verschliss, davon zwölf ohne parlamentarische Mehrheit. Dazu passt, dass die Minderheitsregierungen, die es in den Ländern der Bundesrepublik gab, meist nur von kurzer Dauer waren. Lediglich dem Sozialdemokraten Reinhard Höppner in Sachsen-Anhalt gelang es, damit eine ganze Wahlperiode durchzuhalten (und das sogar zweimal, bis 2002).
Stabilität ist den Deutschen nicht nur in Fragen des Geldwerts essentiell. Eine Regierung, die ohne stabile Grundlage - also ohne Mehrheit im Parlament - zustande kommt, ist vielen von vornherein suspekt. "Koalition der Einladung", das ist folglich eine Wortschöpfung von Politikern, die darauf angewiesen sind, diesem Misstrauen etwas entgegenzusetzen.
Minderheitsregierungen muten Demokraten viel zu
In Wahrheit sind die Vergleiche mit Weimar so überflüssig, wie ein Regieren per Einladung unrealistisch ist. Die erste deutsche Demokratie scheiterte wegen des Mangels an Demokraten. Zudem gab die Verfassung dem Staatsoberhaupt Möglichkeiten, die Demokratie nach Gutdünken außer Kraft zu setzen. Die damaligen Minderheitsregierungen waren Ausdruck der Instabilität, nicht deren Ursache. Heute ist das Problem ein viel kleineres, aber trotzdem relevantes: Eine Minderheitsregierung mutet auch den besten Demokraten oft zu viel zu.
Es geht doch in einem Landtag nicht bloß um die Frage, wie viel Planstellen die Polizei braucht, oder ob ein Land "Sozialtickets" für den Nahverkehr schafft. Es ist doch naiv zu glauben, eine Oppositionsfraktion könne schon glücklich sein, wenn sie der Regierung so etwas mal abringt. Eine Opposition ist dazu da, die Regierung unter Druck zu setzen und dafür zu kämpfen, sie nach der nächsten Wahl abzulösen. Nur mal angenommen, die CDU in Düsseldorf setzte mehr Polizisten für die Reviere durch. Wer wäre hernach in den Zeitungen zu sehen, wie er die neuen Beamten per Handschlag begrüßt? Der Innenminister von der SPD natürlich.
Eine Minderheitsregierung ist in Deutschland - im Unterschied etwa zu Skandinavien, wo andere politische Kulturen und andere Verfassungen auch andere Verhaltensweisen hervorbringen - der Moderator des Übergangs, mehr nicht. Sie entsteht, wenn es für herkömmliche Bündnisse keine Mehrheit gibt, wenn eine große Koalition entweder für CDU oder für SPD nicht opportun ist und wenn Politiker sich zu lagerübergreifenden Bündnissen nicht trauen (zumal die ebenfalls eher kurzlebig sind, wie nicht nur das Jamaika-Bündnis im Saarland, sondern auch Schwarz-Grün in Hamburg gezeigt hat).
Im Grunde aber ist die Frage eigentlich immer nur, wie lange Kabinette à la Kraft durchhalten - in Nordrhein-Westfalen exakt so lange, dass sich nun die Konstellation von 2005 wiederholt. Auch damals lag der Wahltag dort 16 Monate vor dem Datum, das für die Bundestagswahl vorgesehen war. Rot-Grün verlor in Düsseldorf, und Rot-Grün in Berlin war am Ende. Nun kommt der Wahltag im Mai, an dem die FDP womöglich im größten Bundesland mit zwei oder drei Prozent aus dem Landtag fliegt; flankiert von einem ebensolchen Desaster in Kiel. Was dann in Berlin los sein wird, das kann sich jeder selbst vorstellen.