Süddeutsche Zeitung

Neuseeland:Krisenfeste Wahlsiegerin

Premierministerin Jacinda Ardern beschert der Labour-Partei ein historisches Ergebnis.

Von Felix Haselsteiner

"Ernsthaft?", habe sich Clarke Gayford, der Verlobte von Neuseelands alter und neuer Premierministerin Jacinda Ardern, selbst gefragt, als er die ersten Hochrechnungen zu den Parlamentswahlen sah. "Ich dachte ständig: Die Zahlen können nicht stimmen, das wird noch runtergehen, das wird nicht so bleiben", sagte Gayford einer Reporterin des TV-Senders 1 News. Seine Überraschung über das deutliche Wahlergebnis spiegelte sich in seinem Gesicht wieder. Denn wie die meisten Neuseeländer dürfte auch er mit einem Erfolg seiner Frau gerechnet haben - doch mit einem solchen Erdrutschsieg, wie er sich am Samstagabend Ortszeit abzeichnete, wohl kaum. Arderns Labour-Partei feierte ihren bislang größten Wahlsieg und könnte zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Alleinregierung bilden.

Die Zahlen gingen auch am späteren Abend nicht runter: Die Labour-Partei erhielt 49,1 Prozent der Stimmen - und damit 64 der 120 Sitze im Parlament. Im Vergleich zur Wahl 2017 ist es für Arderns Partei ein Zugewinn von 12,1 Prozentpunkten. Demgegenüber steht das ebenso historisch schlechte Ergebnis der National-Partei von 26,8 Prozent. 2017 noch hatte National mit 44 Prozent die Wahl gewonnen, dann aber Arderns Regierung mit der rechtskonservativen NZ First hinnehmen müssen.

Neuseeland kämpft gegen die wirtschaftlichen Folgen von Covid-19

Nun ist Arderns bisheriger Regierungspartner nicht einmal mehr im Parlament vertreten: NZ First bekam nur 2,4 Prozent der Stimmen. Stattdessen wählten die Neuseeländer - inmitten einer globalen Pandemie und einer Wirtschaftskrise - ein auffallend sozial-liberales Parlament.

Die Konservativen sind dramatisch abgesackt, obwohl sie mit Judith Collins eine Spitzenkandidatin präsentiert hatten, die liberaler war als ihre Vorgänger, aber letztendlich zu wenig charismatisch. "Wir alle wussten, wie hart es werden würde", sagte Collins, die schon früh einsehen musste, dass Arderns Popularität kaum zu besiegen sein würde. Doch nicht nur Labour darf sich über Wählerzuwachs aus dem National-Lager freuen: Acht Prozent der Stimmen erhielt das liberale Bündnis ACT, das 2017 noch mit einem Prozent eine Kleinstpartei gewesen war. Und auch die Grünen (7,6 Prozent) hatten Zugewinne von 1,6 Prozentpunkten - und könnten sogar eine Regierungsbeteiligung bekommen.

Man werde sich in der kommenden Woche mit den Spitzenkandidaten der Grünen treffen, sagte Ardern am Sonntag nach einer Besprechung mit ihrer eigenen Parteispitze. Klar ist jedoch auch: Es ist unwahrscheinlich, dass die Labour-Partei mit ihrer absoluten Mehrheit auf Ministerämter zugunsten der Grünen verzichten wird.

Andererseits wurde Ardern im Wahlkampf und auch in ihrer Siegesrede nicht müde zu betonen, dass sie einen modernen Politikstil pflegen möchte. "Ich kann euch versprechen: Wir werden eine Partei sein, die für jeden Einwohner Neuseelands da ist", sagte Ardern. Während der Krisenbewältigung in den vergangenen drei Jahren erarbeitete sie sich - insbesondere durch ihren Umgang mit dem Terroranschlag in Christchurch - Glaubwürdigkeit und einen Ruf, dass es sich bei solchen Aussagen nicht bloß um leere Worte handelt.

Ardern will der Wirtschaftskrise, in die das Land durch die Pandemie gerutscht war und die verstärkt wurde durch harte, protektionistische Einreise- und Lockdown-Maßnahmen, mit einem progressiven Konzept begegnen. Dafür braucht sie die Offenheit der Bevölkerung, die jedoch, unabhängig von der Corona-Krise, auf Lösungen für sozialpolitische Probleme hofft, die Neuseeland seit Langem begleiten: Rund ein Prozent der Bevölkerung lebt auf der Straße, 31 Prozent der Neuseeländer sind fettleibig, das Land hat eine der höchsten Jugend-Suizidraten der Welt und die Umweltstandards sind im internationalen Vergleich niedrig.

"Wir wissen sehr wohl, dass die nächsten drei Jahre nicht einfach werden", sagte Ardern daher, wandte sich dann aber noch weg von den heimischen Problemen - und hin zu dem Thema, das ihr vor allem international einen guten Ruf eingebracht hat, und mit dem sie auch international die Rolle ihres kleinen Landes betonen konnte: "Dies war keine gewöhnliche Wahl und es sind keine gewöhnlichen Zeiten. Sie sind von Angst geprägt", sagte sie. Ihre Partei wolle versuchen, selbst ein Gegenmittel zu sein.

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SZ vom 19.10.2020
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