Süddeutsche Zeitung

Neuregelung des Rederechts im Bundestag:Aktion Marionette

Die Fraktionsführungen von Union, SPD und FDP wollen das Rederecht von Parlamentariern mit abweichenden Meinungen im Bundestag beschneiden. Das offenbart ein bizarres Verständnis von der Aufgabe des Parlaments und der Rolle der Abgeordneten.

Heribert Prantl

Im Grundgesetz gibt es keine Fraktionen; dort gibt es nur Parteien und Abgeordnete. Trotzdem sind die Fraktionen wichtig: Sie organisieren den parlamentarischen Betrieb, sie gewährleisten die Arbeitsfähigkeit des Bundestags; sie sind also notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens.

Parlamente ohne Fraktionen funktionieren nicht. Sie organisieren diejenigen Mehrheiten, die das politische Gewicht des einzelnen Abgeordneten multiplizieren. Der einzelne Abgeordnete profitiert also davon, dass er einer Fraktion angehört. Dafür muss er gewisse Nachteile in Kauf nehmen, dazu gehören auch die Rederegeln: Die Fraktionsführung bestimmt, wer wann und wie lange zu einem Thema redet. Das ist der Grundsatz, das unter anderem sichert den Fraktionsführungen Macht.

Wenn es aber keine Ausnahmen von diesem Grundsatz mehr gibt, wird es gefährlich. Die Fraktionsführungen der Altparteien CDU/CSU, SPD und FDP wollen die Ausnahmeregelungen in der Geschäftsordnung des Bundestags weitgehend eliminieren. Abgeordnete, die ausnahmsweise eine andere Meinung vertreten als die Mehrheit der Fraktion, werden mundtot gemacht. Sie sollen nicht mehr reden dürfen.

Das rührt am Selbstverständnis des Parlaments - das verändert das Wesen des Parlamentarismus. Das zerbricht den Kern eines Mandats; das macht aus dem Abgeordneten einen bloßen Funktionsträger. Das verwandelt die Geschäftsordnung in eine Machtverteilungsordnung der Fraktionen.

Das macht den Bundestagspräsidenten zur Marionette der Fraktionschefs. Das alles geht zu weit. Das verkennt, welcher Natur die Geschäfte sind, die die Geschäftsordnung des Bundestags organisieren soll: Es geht nicht um die Organisation der Macht der Parteien, sondern um die Organisation des parlamentarischen Betriebs.

Abweichlern gebührt Achtung

Die Fraktionsführungen behaupten, es gehe ihnen um die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Das offenbart ein seltsames Funktionsverständnis. Es ist keine Störung des Betriebs, wenn Abgeordnete begründen, dass sie anderer Meinung sind als die Mehrheit ihrer Fraktion. So etwas macht keiner zum Gaudium, so etwas verlangt Zivilcourage.

Dafür gebührt ihm die Achtung, nicht die Verachtung der Geschäftsordnung. Im Bundesverfassungsgericht gibt es das abweichende Votum: Richter können dem Urteil ihre abweichende Meinung anhängen. Die Funktionsfähigkeit des höchsten Gerichts wurde auf diese Weise nicht beeinträchtigt, sondern gefestigt.

"Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen" - so hat, zur heftigen öffentlichen Empörung, Kanzleramtsminister Ronald Pofalla vor Monaten seinen Fraktionskollegen Wolfgang Bosbach angeschnauzt, als dieser bei der Euro-Rettung nicht die Meinung der Regierung vertreten wollte. Pofalla hat sich dafür entschuldigt. Die geplante Beschneidung des Rederechts ist nichts anderes als die Übertragung dieses Satzes in die Paragraphen der Geschäftsordnung des Bundestags.

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SZ vom 16.04.2012/gal
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