Referendum in Neukaledonien:"Die Angst ist groß, dass China sich die Inseln einverleibt"

Noch gehört das Urlaubsparadies im Pazifik zu Frankreich. Nun stimmen die Neukaledonier ab, ob das so bleibt. Gegner der Unabhängigkeit fürchten um die Sicherheit ihrer Heimat, erklärt Olivier Poisson, Chefredakteur der Inselzeitung.

Interview von Juri Auel

Der Name Neukaledonien kann in die Irre führen. Caledonia, so nannten die Römer einst Schottland. Doch das ist von der Inselgruppe im Pazifik Tausende Kilometer entfernt, von den Unterschieden im Klima ganz zu schweigen. Dennoch erinnerte die Hauptinsel den englischen Seefahrer James Cook an den Norden Großbritanniens, als er die Inseln 1774 aus europäischer Sicht entdeckte. Seitdem gibt es im Pazifischen Ozean ein "neues Schottland".

Als im frühen 19. Jahrhundert die ersten Siedler aus Frankreich und Großbritannien auf die Inseln kamen, trafen sie auf melanesiche Ureinwohner, für die die Kolonialherren den ursprünglich hawaiianischen Begriff Kanaka - Mensch - benutzten. Ursprüglich ein Sammelbegriff für verschiedene Urvölker Ozeaniens schaffte es die Bezeichnung "Kanake" als rassistisches Schimpfwort für alle möglichen Ausländer schließlich auch in die deutsche Sprache.

Die Volksgruppe der Kanaken gibt es noch heute - und einige von ihnen fordern schon seit langem die Unabhängigkeit ihrer Inseln, die Napoleon III. besetzte und als Strafkolonie benutzte, ehe man sie 1946 zu einem französischem Überseeterritorium erklärte. Das Unabhängigkeitsreferendum am Sonntag ist als Teil eines Friedensprozesses schon vor Jahrzehnten angesetzt worden. Der Journalist Olivier Poisson, 46, stammt aus Nordfrankreich und ist Chefredakteur der einzigen Tageszeitung auf den Inseln, Les Nouvelles Calédoniennes. Er erklärt, warum viele Leute Angst vor einer Unabhängigkeit haben - und warum der Brexit bei der Diskussion keine Rolle spielt.

Herr Poisson, wie viel Frankreich steckt in Neukaledonien?

Olivier Poisson: Die Inselgruppe ist wirklich ein kleines Stück Frankreich in einer abgelegenen Region im Pazifik. Die Straßen, die Schilder, die Geschäfte sehen aus wie dort. Nouméa, die Hauptstadt, könnte eine Stadt an der Côte d'Azur sein. Aber verlässt man die Stadt und geht in den Busch, dann sieht es so aus wie in Australien. An der Westküste gibt es hübsche Ländereien, an der Ostküste wachsen viele tropische Pflanzen. Und überall rund um die 18 000 Quadratkilometer Land gibt es idyllische Strände mit großen Lagunen.

Welchen politischen Einfluss hat Frankreich heute noch auf die Inseln?

Frankreich spielt nur im Sinne der Staatssouveränität eine Rolle. Es kümmert sich um die Außenpolitik, finanziert die Armee und das Justizsystem. Steuern, das Gesundheitssystem, Bildungspolitik - das alles wird in Neukaledonien selbst geregelt. Die Amtssprache ist Französisch, die Kanaken sprechen jedoch ihre eigenen Sprachen und leben wie früher in Stämmen. Die Währung ist der Pazifische Franc, der an den Euro gekoppelt ist. Neukaledonien ist mit je zwei Abgeordneten im französischen Senat und der Nationalversammlung vertreten.

Wie wichtig ist das Referendum für die Menschen in Neukaledonien?

Sehr wichtig. Ein Teil der Kanaken sind der Meinung, nur die Unabhängigkeit könne ein Ende der Kolonisierung sein. Die Wahlkampagne läuft dennoch auf beiden Seiten ruhig und respektvoll ab. Aber man sieht hier viele Flaggen, die für die Unabhängigkeit werben.

Das heißt, die europäischstämmigen Bewohner sind eher für den Status quo?

Genau. Sie sind der Meinung, eine Unabhängigkeit von Frankreich sei zu gefährlich und fürchten, Neukaledonien könne allein nicht überleben. Die Angst ist groß, China könnte sich die Inseln einverleiben, was mit dem Schließen von Tourismusverträgen anfangen könnte. Die Furcht ist zurzeit noch abstrakt, aber China betreibt eine massive Expansionspolitik in der Pazifikregion. Deswegen sind die Europäer zwar für Autonomie, aber nicht für die Loslösung von Frankreich. Es gibt übrigens noch mehr Gruppen, die man erwähnen sollte.

Nämlich?

Etwa 39 Prozent der Einwohner der Inseln sind Kanaken, 27 Prozent kommen ursprünglich aus Europa. Daneben stammen 8,2 Prozent von der Inselgruppe Uvea und Futuna (ebenfalls französisches Überseegebiet Wallis und Futuna; Anm. d. Red.) - dazu kommen unter anderem Menschen aus dem Gebiet der Maghrebstaaten (sowohl Nachkommen von arabisch-berberstämmigen Sträflingen als auch europäischen Algerienfranzosen - Pieds-noirs; Anm. d. Red.), aus Indonesien, Vietnam und Französisch-Polynesien (Tahiti). Die kleineren Gruppen sind recht unabhängig und fürchten eine Nation der Kanaken.

Europäer denken bei Fragen nach Unabhängigkeit heute schnell an zwei Dinge: Den Brexit und die Versuche Kataloniens, sich von Spanien abzuspalten. Spielen diese Dinge bei der Diskussion in Neukaledonien irgendeine Rolle?

Nein, überhaupt nicht. Das Referendum hier ist das Ergebnis eines Prozesses, der vor 30 Jahren mit gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Kanaken und europäisch-stämmigen Bewohnern der Insel begann. Dass dieses Referendum im Jahr 2018 stattfindet, wurde bereits vor 20 Jahren festgelegt. Sollten die Gegner der Unabhängigkeit am Sonntag siegen, muss es 2020 ein weiteres Referendum geben. Und sollten sie dann wieder gewinnen, ist sogar eine dritte Abstimmung für 2022 vorgesehen. Ohne diese Regelung hätten die Separatisten dem ganzen Friedensprozess nicht zugestimmt. Aber das Nein-Lager möchte darüber nochmal reden, sollte es einen größeren Sieg einfahren.

Welche Beziehung hat Neukaledonien zur EU?

Die Inseln profitieren von EU-Mitteln, die sie über Frankreich beziehen. Im Falle einer Unabhängigkeit müsste da wohl nachverhandelt werden. Neukaledonien ist mit einigen anderen Überseegebieten assoziiert mit der EU und eine Art Außenposten der Union, allerdings weder EU-Territorium noch Teil des Binnenmarktes.

Wie werden Sie am Sonntag abstimmen? Nur Indigene und Menschen, die vor 1998 auf die Inseln gekommen sind, dürfen mit abstimmen. Insgesamt sind das etwa 174 000 von 300 000 Bewohnern, also etwa 58 Prozent. Da ich selbst erst 2014 hierhergekommen bin, darf ich nicht am Referendum teilnehmen. Wenn ich dürfte, würde ich aber glaube ich mit Nein stimmen. Die Gefahr ist zu groß, dass ein unabhängiges Neukaledonien viel von seinem Lebensstandard verlieren könnte. Und vom Schutz, den Frankreich uns gewährt.

Was sagen die Umfragen?

Mehrere sagen voraus, dass die Gegner der Unabhängigkeit gewinnen werden. Auch viele Kanaken werden wohl dagegen stimmen - einfach, weil das Projekt eines unabhängigen Neukaledoniens ihnen zu riskant erscheint.

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