Neujahrsansprache:Appell zum Aufbruch

Kanzler Scholz beschwört in seiner ersten Neujahrsansprache den Zusammenhalt. Doch einen Großteil der Rede verwendet er auf das Thema Corona und einen Aufruf zum Impfen.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Die Botschaft wird so schnörkellos überbracht, wie nur ein Olaf Scholz das fertigbringt. "Bleiben wir zusammen." Mit diesen Worten soll am Freitagabend die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers enden. Nach 16 Jahren Regentschaft von Angela Merkel, in der vierten Welle der weltweiten Pandemie und bei wachsender Wut auf Deutschlands Straßen wirbt der neue Kanzler um Zuversicht. "Was ich überall wahrnehme, das ist eine riesige Solidarität, das ist überwältigende Hilfsbereitschaft, das ist ein neues Zusammenrücken und Unterhaken", heißt es einem vorab verbreiteten Manuskript der Rede, die am Silvesterabend im Fernsehen ausgestrahlt wird. "Wir brechen auf in eine neue Zeit." Das könnte man eine mutige Interpretation der Lage nennen.

Gerade mal drei Wochen ist die neue Bundesregierung im Amt, und für eine Bilanz ist es noch zu früh. Was allerdings nur schwer zu übersehen ist: Der von Scholz beschworene Aufbruch für Deutschland dürfte eher eine Hoffnung als die Realität beschreiben. Die drei Regierungsparteien gleichen bisher einem Gespann, das einen schwer beladenen Karren zieht, aber kaum Land gewinnt.

Scholz will das Jahr 2022 - vielleicht gerade deshalb - mit einer Mutmacher-Rede einläuten. "Wir stehen am Beginn eines neuen Jahrzehnts", sagt er. Vor dem Land liege "eine Zeit, die gut wird, wenn wir sie aktiv mitgestalten". Gemeint sind da auch Hunderttausende Helferinnen und Helfer, ob im Gesundheitswesen, beim Hochwasserschutz oder der Bundeswehr, die sich der Ausbreitung des Coronavirus entgegengestellt haben, aber auch verheerenden Fluten. "Gemeinsam haben wir geholfen, aufgeräumt und mit dem Wiederaufbau begonnen", sagt Scholz und fügt noch an: "Und damit werden wir noch lange zu tun haben."

Letzteres gilt allerdings auch für die Arbeit der Koalition, die sich als Gegenmodell zu politischer Verkrustung betrachtet. SPD, Grüne und FDP haben einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der mehr Reformehrgeiz zeigt als die Vorgängerregierungen vieler Jahre. Erreichen der europäischen Klimaziele trotz Schuldenbremse, früherer Kohleausstieg, konsequente Menschenrechtspolitik, Bürokratieabbau, dazu ein höherer Mindestlohn und der Umbau von Industrie und Gesellschaft - "eine gigantische Aufgabe" nennt Scholz das. Auch Familie und Elternschaft will die Bundesregierung zeitgemäßer auslegen. Kommt es so, wird Deutschland ein anderes Land. Aber - kommt es so?

Die ersten Regierungswochen haben andere Signale ausgesandt, und auch die Scholz'sche Neujahrsansprache lässt Begeisterung vermissen. Das dürfte am Naturell des Redners liegen, aber auch an der hochansteckenden Virusvariante Omikron, die alle Reformvorhaben in den Hintergrund zu drängen droht; keiner weiß, bis wann. "Bitte nehmen Sie diese Beschränkungen sehr ernst", sagte Scholz, der einen großen Teil seiner Rede auf den verschärften Infektionsschutz und einen eindringlichen Impfappell verwendet. "Bis Ende Januar wollen wir noch einmal 30 Millionen Impfungen schaffen. Damit wir gewappnet sind gegen Omikron."

Auf Deutschlands Straßen schwillt der Lärm unterdessen an, und er richtet sich gegen eben solche Ankündigungen. Bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen mischen sich Impfängste vielerorts mit Staatsverachtung und Neonazis unter Esoterikerinnen und sogenannte Querdenker. Die Aggression ist bisweilen so hoch, dass Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Donnerstag Alarm schlug. Etliche Aufmärsche würden von Rechtsextremisten unterwandert. "Denen geht es darum, wirklich unsere Demokratie zu beschädigen, die Substanz unseres Staates anzugreifen", sagte er im WDR.

Bundeskanzler Scholz indes findet sanftere Umschreibungen für die Eskalation. Es gebe "unterschiedliche Meinungen", aber eine starke Gemeinschaft halte Widersprüche aus, "wenn wir Respekt voreinander haben". Die allgemeine Impfpflicht, der Scholz noch vor Kurzem unmissverständlich seine Unterstützung zugesagt hatte, erwähnt er in der Neujahrsansprache mit keinem Wort. Betont wird dafür das Zusammenrücken, auch auf europäischer Ebene. Deutschland, das nun den Vorsitz der G-7-Staaten übernimmt, werde zum "Vorreiter für klimaneutrales Wirtschaften", kündigt Scholz an.

Das Thema Corona allerdings dürfte noch für Monate die Kräfte der Bundesregierung binden und könnte sie schon bald vor eine innere Kraftprobe stellen. Bloß kein Öl ins Feuer gießen angesichts der Radikalisierung im Land, warnen die einen. Bloß nicht zurückweichen vor Einschüchterungsversuchen, raten andere, auch in der SPD. Ähnlich sieht das Omid Nouripour, Bewerber für den Grünen-Vorsitz. "Das Ausbleiben der Impfpflicht führt dazu, dass die Grundrechte für alle eingeschränkt werden müssen, auch für die große Mehrheit der Geimpften", sagte er der Süddeutsche Zeitung. Deshalb müsse sie kommen. Die FDP bewertet die Sache in Teilen anders. Die Debatte ist vertagt, aufs neue Jahr.

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