Süddeutsche Zeitung

Neues Staatsoberhaupt:Steinmeier: "Geben Sie Deniz Yücel frei"

  • Frank-Walter Steinmeier wird im Plenarsaal des Bundestages als neues Staatsoberhaupt vereidigt.
  • In seiner ersten Rede als Bundespräsident hält er ein flammendes Plädoyer für die Staatsform der Demokratie, deren Lebenselixier der Mut sei.
  • Und er fordert den türkischen Präsidenten Erdoğan auf, die "unsäglichen Nazi-Vergleiche" zu unterlassen und den Journalisten Deniz Yücel freizulassen.

Von Barbara Galaktionow

Der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist bei einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat als neuer Bundespräsident vereidigt worden. In seiner ersten Ansprache als Staatsoberhaupt formulierte er ein eindringliches Plädoyer für die Demokratie und den Mut, diese auch in schwierigen Zeiten zu verteidigen.

Zunächst richtete er jedoch einige Worte in Richtung Ankara. Er forderte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf, die Erfolge seines Landes in den vergangenen Jahren und die gemeinsamen Bande nicht aufs Spiel zu setzen. "Diese Sorge leitet meinen Appell: Präsident Erdoğan, Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben!", sagte Steinmeier. Er forderte ihn auf, die "unsäglichen Nazi-Vergleiche" zu beenden. Und mit Blick auf den deutsch-türkischen inhaftierten Journalisten forderte er: "Geben Sie Deniz Yücel frei!"

Steinmeier wies jedoch auch darauf hin, dass die Anfechtung der freiheitlichen Demokratie nicht nur bei anderen stattfinde. Es gebe in Deutschland zwar keinen Grund für Alarmismus. Doch: "Wir müssen über Demokratie nicht nur reden, wir müssen wieder lernen, für sie zu streiten." Auch unsere Zukunft sei nicht alternativlos, sondern offen, ja überwältigend ungewiss. Und diese Offenheit, die bei den einen Hoffnungen auslöse, jage anderen Angst ein. Einfache Antworten seien da aber keine Lösung.

Die neue Faszination des Autoritären, auch in Teilen Europas, sei am Ende nichts anderes als "die Flucht in die Vergangenheit aus Angst vor der Zukunft". "Das kann - und das darf nicht unser Weg sein", so Steinmeier. Die Zukunft sei kein Schicksal, dem Gesellschaften ausgeliefert seien, erst recht nicht die demokratischen. In Deutschland sei vieles bereits gelungen. Das Erreichte müsse bewahrt werden - doch das werde nicht genügen.

Anstrengungen der Demokratie nicht fürchten

Wie bereits in der Ansprache unmittelbar nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 12. Februar stellte Steinmeier die "Stärke der Demokratien" und den Mut, diese zu verteidigen, ins Zentrum seiner Rede. Demokratie sei eine anstrengende Staatsform, räumte er ein, aber die "Flucht vor den Anstrengungen der Demokratie" führe nicht zu besserer Politik. Mit Blick auf die deutsche NS-Geschichte und aktuelle Entwicklungen sagte der neue Bundespräsident, dass nie wieder eine politische Kraft so tun dürfe, als habe sie den Willen des Volkes gepachtet. Da solle man "vielstimmig dagegenhalten".

"Wir steuern auf unkartiertes Gelände zu", sagte Steinmeier. Bei den Antworten werde man sich nicht immer an andere anlehnen können. Das verlange Selbstbewusstsein, aber vor allem Mut. "Mut ist das Lebenselixier der Demokratie - so wie die Angst der Antrieb von Diktatur und Autokratien ist."

Demokratie brauche eine lebendige Debatte. "Wir brauchen das Dauergespräch unter Demokraten, womöglich auch kontrovers - nicht die tägliche Selbstbestätigung unter Gleichgesinnten." Steinmeier forderte die Menschen auf, mit Andersdenkenden zu sprechen und den "Blick vom Smartphone" zu heben.

Statt Rückzug hinter "Butzenscheiben der Nation": Europa verbessern

Er betonte überdies, wie wichtig es sei, am Unterschied von Fakt und Lüge festzuhalten. "Wer das aufgibt, der rührt am Grundgerüst von Demokratie."

Auch in Bezug auf Europa forderte Steinmeier Mut ein. Man wisse nicht erst seit dem Brexit, dass die Europäische Union nicht perfekt sei, doch der Weg "zurück hinter die vertrauten Butzenscheiben der Nation" sei der falsche.

Gerade weil die Demokratie derzeit weltweit angefochten werde, seien die Deutschen gefragt, mutig dafür zu streiten. Und zwar weder mit Kleinmut noch mit Hochmut, sondern mit dem "tatkräftigen, dem lebenszugewandten Mut von Demokraten".

Gauck lobt "beglückendes Demokratiewunder" in Deutschland

Vor der Vereidigung Steinmeiers sprach Joachim Gauck, nicht mehr als Bundespräsident, sondern "diesmal als Bürger", wie er sagte. Seine Amtszeit sei weitgehend anders verlaufen, als er es sich vorgestellt habe. Die Geschichte sei "voller Überraschungen, im Guten, aber auch im Bösen", sagte Gauck mit Blick auf ungute Entwicklungen der vergangenen Jahre. Landesgrenzen würden nicht mehr von allen akzeptiert, demokratische Spielregeln nicht mehr von allen beachtet, nationalistisches, autoritäres Denken habe an Boden gewonnen.

Vor allem aber richtete auch Gauck seinen Blick auf das "beglückende Demokratiewunder, das unser Land bis heute prägt". Deutschland habe ein zunehmend reflektiertes Selbstwertgefühl entwickelt. Viele Länder orientierten sich am deutschen Modell des Rechtsstaats und der demokratischen Praxis.

Freiheit sei manchmal auch dadurch zu verteidigen, dass sie die Freiheit der Freiheitsgegner beschränke, sagte Gauck. Er forderte die Deutschen auf, sich nicht Hassbotschaften im Netz und der realen Welt zu beugen und sich auch nicht vor den "Scheinriesen" zu fürchten, die in der "erweiterten politischen Welt" um Aufmerksamkeit buhlten.

Dreyer würdigt Gauck

Zuvor hatte bereits Bundesratspräsidentin Malu Dreyer (SPD) Gauck gewürdigt. Er habe mit seiner "klaren und herzlichen Art" das Vertrauen der Menschen gewonnen. Dreyer erinnerte daran, dass Gauck bereits in seiner Antrittsrede vor fünf Jahren dazu aufgefordert habe, mehr Europa zu wagen.

Es bleibe das besondere seiner Präsidentschaft, dass die Deutschen mit ihm noch einmal über das Wunder der Demokratie staunen durften. Er habe als ehemaliger DDR-Bürger das "kostbare Gefühl der Befreiung mit uns geteilt".

Bundestagspräsident Norbert Lammert nahm das Wirken der First Ladies in den Blick. "Sie nehmen ein Amt wahr, das es gar nicht gibt in unserer Verfassungsordnung, wohl aber in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit."

Nachmittag im Schloss Bellevue

Für Steinmeier ging es nach seiner Ansprache weiter ins Schloss Bellevue. Am Amtssitz des Bundespräsidenten soll er mit militärischen Ehren empfangen werden. Mit dabei sind Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Generalinspekteur Volker Wieker.

Am Sonntag war Steinmeier dort bereits mit seinem Vorgänger Gauck zusammengetroffen - und hatte symbolisch das Amt übernommen. Gaucks fünfjährige Amtszeit war am Samstag um Mitternacht zu Ende gegangen. Er war am Freitag mit einem Großen Zapfenstreich verabschiedet worden. Der 77-Jährige hatte aus Altersgründen auf eine zweite Amtszeit verzichtet.

Steinmeier ist 61 Jahre alt. Er ist der zwölfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

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