Neues Buch zu Warschauer Aufstand:Bis ins Mark der Nation

Deutsche Soldaten bei Kämpfen während des Warschauer Aufstands, 1944 | German soldiers fighting during the Warsaw Uprising, 1944

Deutsche Soldaten bei Kämpfen während des Warschauer Aufstands.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Der Warschauer Aufstand 1944 gegen die Nazis war sinnlos - das behauptet nun ein polnischer Historiker. Damit provoziert er einen Sturm der Entrüstung, denn die Kontroverse berührt den Kern des polnischen Selbstverständnisses.

Von Klaus Brill

Fast ist er noch ein junger Mann, 33 Jahre alt, doch an Kühnheit mangelt es Piotr Zychowicz nicht. Der polnische Historiker und Journalist hat gerade ein Buch mit dem Titel "Wahnsinn '44" veröffentlicht und damit im nationalkatholischen Lager einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Denn er behauptet nichts Geringeres, als dass der legendäre Warschauer Aufstand des Jahres 1944 im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Besatzer mit all seinen Opfern vollkommen sinnlos gewesen sei. Ja mehr noch, schädlich: Er habe nur den Sowjets genützt, die nach dem Krieg in Polen ein kommunistisches Regime errichteten.

Die Kontroverse berührt den Kern des polnischen Geschichts- und Selbstverständnisses. In den vergangenen 250 Jahren hat das Land von seinen Nachbarn Deutschland und Russland immer wieder Überfälle, Unterwerfung und Unterdrückung erlitten. 123 Jahre lang, von 1795 bis 1918, war die Nation nach den drei polnischen Teilungen von der Landkarte Europas getilgt. Nach dem Ersten Weltkrieg folgten einer kurzen Phase der Unabhängigkeit das Terror-Regime der Deutschen und vier Jahrzehnte sowjetischer Hegemonie.

Doch immer wieder wagten polnische Patrioten gegen die Besatzer den bewaffneten Aufstand, so in den Jahren 1794, 1830, 1848 und 1863. Als wichtigste all der vergeblichen Erhebungen wird von den Bürgern indes der Warschauer Aufstand vom 1. August 1944 betrachtet, wie jetzt eine Meinungsumfrage ergab. Das Ereignis ist im Bewusstsein der Polen stark verankert. Jahr für Jahr werden am 1. August auf Warschaus Straßen Hunderte Stellen, an denen Polen von den Deutschen erschossen wurden, mit Blumen und Kerzen geschmückt. Um 17 Uhr ertönen an diesem Tag die Sirenen, die ganze Stadt steht dann still. Eines der spektakulären neuen Warschauer Museen ist dem Thema gewidmet.

Der Aufstand wurde von den Untergrund-Soldaten der Armia Krajowa (Heimat-Armee) getragen und dauerte 63 Tage. Mangelhaft bewaffnet, aber todesmutig lieferten sie den Besatzern Straßenkämpfe, eroberten Gebäude und mussten sich am Ende gegen die deutsche Übermacht doch geschlagen geben. Etwa 15 000 AK-Kämpfer verloren während des Aufstandes ihr Leben, zudem brachten die Deutschen zwischen 150 000 und 200 000 polnische Zivilisten um. Zur Vergeltung wurde ferner die Warschauer Innenstadt zu etwa 85 Prozent zerstört.

SS und Wehrmacht hatten zuvor schon das Areal des jüdischen Ghettos dem Erdboden gleichgemacht. Dort war es im Jahr zuvor, am 19. April 1943, zum Aufstand der von den Nazis internierten und zum Transport ins Vernichtungslager bestimmten Juden gekommen, der ebenfalls grausam niedergeschlagen wurde.

Eine nationale Katastrophe

Doch dieses Ereignis ist mit dem Aufstand von 1944 nicht zu verwechseln, wie dies im Ausland des Öfteren geschieht. Ob die bewaffnete Rebellion der Heimat-Armee je eine Aussicht auf Erfolg hatte, war schon 1944 umstritten. General Wladyslaw Anders, ein führender polnischer Exil-Kämpfer, riet damals ab und nannte den Versuch ein Verbrechen. Im selben Sinne erklärte vor zwei Jahren der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski, der Warschauer Aufstand sei "eine nationale Katastrophe" gewesen.

Für den Historiker Piotr Zychowicz war er schlichter Wahnsinn, wie der Titel seines Buches anzeigt, ein gigantisches, nutzloses Opfer. "Ich weiß, dass es ganz im Gegensatz zu unserem Temperament steht, aber im Jahr 1944 hätten wir gar nichts tun sollen", sagte Zychowicz der Zeitung Polska. Die Deutschen seien nach der Niederlage von Stalingrad in der Defensive gewesen und hätten Warschau sicher bald verlassen - schließlich stand die sowjetische Armee schon im Vorort Praga am rechten Weichselufer. Sie hinderte die Deutschen am Massaker in der Innenstadt ebenso wenig wie andere Alliierte. Dabei hatten AK-Verbände mit den Sowjets zuvor kooperiert, wie Zychowicz erklärt.

Von höchster Stelle erhielt er Widerspruch. Der Aufstand sei "keineswegs ein Zeichen von Unverantwortlichkeit" gewesen, sondern "der Ausdruck einer Sehnsucht nach Freiheit", erklärte Erzbischof Jozef Michalik, der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz. Zugleich beklagte er "die Bösartigkeit, Unfairness und Verlogenheit mancher Kapazitäten". Die Zeitschrift Do rzeczy (Zur Sache), das führende Organ der nationalkatholischen Kampfpresse, konterte auf ihrem Titelblatt mit der Schlagzeile: "Wahnsinn 1944 oder Wahnsinn 2013". Damit ist die Debatte eröffnet.

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