Neues Buch über Täter und Opfer im KZ Auschwitz:"Meine Mutter fehlte mir"

Deportees

Jüdische Häftlinge im KZ Auschwitz

(Foto: Getty Images)

Ein Franziskanerpater, der für einen Familienvater in den "Hunger-Bunker" geht, ein besonders brutaler SS-Rottenführer und ein Zehnjähriger, der sich nach der Umarmung seiner Mutter sehnt: Ein neues Personenlexikon holt Täter und Opfer im KZ Auschwitz aus der Anonymität.

Von Werner Hornung

Schade, dieses Buch steht auf keiner Bestsellerliste: "Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde". Verfasst hat das Personenlexikon Ernst Klee, der im Alter von 71 Jahren im Mai verstarb.

Er war einer der ersten und besten investigativen Journalisten hierzulande. Nach seinen kritischen Behinderten-Reports in den Siebzigern erschienen von ihm dann in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Recherchen über ehemalige Nazis und ihre teils erstaunlichen bundesdeutschen Karrieren.

Die besondere Leistung Klees dabei war die ausführliche Dokumentation medizinischer Verbrechen von Ärzten; außerdem waren seine Nachforschungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur stets breit angelegt. Er benannte Täter und Mittäter aus allen Gesellschaftsschichten. Nachzulesen sind ihre Kurzbiografien im "Personenlexikon zum Dritten Reich" (2003) und im "Kulturlexikon zum Dritten Reich" (2007).

Grausame Alltagsrituale

Wer sich zwanzig, dreißig Jahre zurückerinnert, der wird dieser Bemerkung zu Klees Engagement sicher zustimmen: "An die Themen Euthanasie und Mediziner-Verbrechen hatte sich damals kein Historiker konsequent herangetraut; viele der Mörder lebten noch, ja lehrten noch an den Hochschulen. Couragiert drang Klee auf das verminte Feld vor. Er konnte sich dabei auf einige mutige Archivare und Staatsanwälte stützen. Sein professioneller Großkopierer fütterte ohne Unterlass seine meterlangen Aktenregale mit Quellen - Klee leistete Pionierarbeit."

Die Zeilen stammen von Walter H. Pehle, ehemals Lektor beim Frankfurter S.-Fischer-Verlag und langjähriger Freund. Ihm hat Ernst Klee sein letztes Werk gewidmet, dieses umfangreiche Personenlexikon zu Auschwitz.

Ungefähr 30 Kilometer vom südpolnischen Kattowitz entfernt befand sich von 1941 bis 1945 "die größte Menschen-Vernichtungs-Anlage aller Zeiten" (so der KZ-Kommandant Rudolf Höß in seinen autobiografischen Aufzeichnungen). In dem weiträumigen Lagerkomplex Auschwitz, Birkenau und Monowitz und den dazugehörigen Außenlagern starben mehr als eine Million Menschen.

Zum grausamen Alltagsritual dieser Mordmaschinerie gehörte es, die Angehörigen der SS-Totenkopf-Verbände nur mit ihrem Dienstrang anzusprechen und die inhaftierten Juden, Sinti und Roma oder politischen Gefangenen allein mit den eintätowierten Registrierungsnummern. Ernst Klee holte sie aus der Anonymität.

In seinem Buch werden Täter und Opfer beim Namen genannt: Zum Beispiel der besonders brutale SS-Rottenführer Stefan Baretzki, der für die Abwicklung der ankommenden Transporte von der Selektionsrampe bis zur Gaskammer zuständig war; oder andererseits Häftling 16.670, Franziskanerpater Maximilian Kolbe; er ging anstelle eines polnischen Familienvaters in den "Hunger-Bunker" und wurde dort per Phenolspritze getötet.

Kinderweihnacht im KZ

Der personelle Höchststand der KZ-Belegschaft lag im Januar 1945 bei 4415 SS-Männern und 72 SS-Aufseherinnen. Viele von ihnen konnten zwar identifiziert werden, doch zu ihren Tätigkeiten fanden sich keine Hinweise, deshalb sind sie im Anhang bloß aufgelistet.

Biografische Portraitskizzen dagegen bietet der fast 450 Seiten umfassende Hauptteil, der alphabetisch geordnet von "Aaron, Mois. Jüdisches Sonderkommando" bis "Mit Zyklon B Ermordeter" reicht. Hier werden neben Häftlingen vor allem Männer und Frauen aus der SS-Hierarchie charakterisiert.

Um den ideologischen Fanatismus dieser Leute zu veranschaulichen und um ihn sozial zu verdeutlichen, hat Klee den Kurzbiografien gelegentlich ein literarisches Zitat eingefügt, bei einem Rottenführer beispielsweise: "Den Nazi, der an die Sache glaubte, traf man am häufigsten unter den mittleren Chargen, den Rotten-, Unterschar- und Oberscharführern, die als Fahrer, Blockführer und Rapportführer Dienst machten. Sie glaubten an ihre Gerechtigkeit, ihren Sieg und Führer."

Diese Einschätzung stammt aus einem Erinnerungsbuch der Wiener Ärztin Ella Lingens; sie wurde 1942 von der Gestapo wegen "Judenbegünstigung" inhaftiert, hat das Konzentrationslager Auschwitz aber überlebt.

Mörder ohne Grenzen

Ernst Klees fulminantes Kompendium bietet mehr als die übliche Aneinanderreihung von Zahlen, Daten und Fakten. Es ist auch viel mehr als ein lexikalisches Mahnmal. Es ist ein enzyklopädischer Steinbruch, in dem man viel nachschlagen kann und beim Lesen immer wieder auf weitere informative Artikel stößt.

So kommt man etwa von der Biografie zur Holocaust-Überlebenden Ruth Klüger auf der gegenüber liegenden Seite zu Kurt Knittel, dem NS-Schulungsleiter. Er war in Auschwitz für die Truppenbetreuung zuständig, hatte Konzerte, Theateraufführungen und die Weihnachtsfeiern zu organisieren.

Will man es nun noch genauer wissen, führt das Stichwort "Weihnachten" im Sachregister zur Kurzbiografie des Häftlings Bohdan Janiszowski, der die Feiertage 1944 als Zehnjähriger erlebte: "Die Kinder im Block bekamen Geschenke, an denen die Stubendienste so manche Stunde gearbeitet hatten. Es waren kleine, aus Deckenstücken angefertigte und mit Lumpen ausgestopfte Hunde, Katzen, Elefanten und Hasen. Im Block waren nicht viele Kinder, weil nur noch wenige Kinder am Leben geblieben waren. Mir brachten der Weihnachtsbaum und die Geschenke aber keine Freude. Meine Mutter fehlte mir, die mich an sich gedrückt und mich getröstet hätte."

Bis auf zwei Schwarz-Weiß-Fotos, die fröhliche SS-Männer und -Mädels zeigen, enthält das Buch keine Illustrationen, leider auch keine kartografischen Orientierungshilfen. Falls - was zu wünschen wäre - von diesem Lexikon bald eine zweite Auflage erscheint, sollte sie Lagerpläne und vor allem eine Lagekarte aufweisen.

Ist nämlich von Auschwitz (polnisch: Oswiecim), Birkenau (Brzezinka) und Monowitz (Monowice) die Rede, haben die meisten Leute kaum eine Ahnung, wo die Orte liegen. Das sollten sie aber wissen, denn der Tod war ja nicht bloß "ein Meister aus Deutschland", wie der Dichter Paul Celan schrieb, sondern ein Mörder, der keine Grenzen kannte.

Ernst Klee: Auschwitz: Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon. S. Fischer Verlag, 2013. 507 Seiten, 24,99 Euro; als E-Book 21,99 Euro.

Werner Hornung unterrichtete Deutsch, Geschichte und Sozialkunde. Er rezensiert seit 45 Jahren politische Bücher; er lebt in Lichtenfels und Leipzig.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: