Neuer Präsident Emmanuel Macron:In Frankreich hieß "wir" zuletzt oft "ihr nicht"

Der neue Präsident Emmanuel Macron verspricht, nun für jeden einzelnen Franzosen zu kämpfen. Wie kommt das an? Eine Spurensuche am Wahlabend in Paris.

Reportage von Felix Hütten, Paris

Um 20 Uhr und ein paar Sekunden schießen auf der Leinwand ganze 65 Prozent für Emmanuel Macron in die Höhe, und mit ihnen Arme und Jubel und Freude. "Marine ist am Arsch", schreien sie. Junge Franzosen, Wodka-Cola in der Hand, I-love-New-York-Shirts unter Jeansjacken, die Hosen lassen die Knöchel frei. Willkommen zur Präsidentenwahl, willkommen im 11. Arrondissement. Dort, wo Paris im November 2015 vom Terror getroffen wurde. Dort, wo sich heute Studenten und Unternehmensberater um kleine Appartements streiten, dort, wo man ein Bier für gerade noch vier Euro bestellen kann.

Dort, wo Marine Le Pen nie eine Chance hatte. Trotz des Terrors.

Genau deswegen ist Marie-Edmée Grolier hier an diesem Abend, ein bisschen zu alt für diese Bar, sagt sie und lacht, so schlimm aber ist es nicht. Sie besucht ihre Tochter in Paris, und außerdem hat ihr Kandidat gewonnen, alles andere wäre eine Katastrophe gewesen. Die Schulleiterin, die Haare grau, der Blick ganz wach, kommt aus der Nähe von Avignon, aus einer kleinen Stadt in Südfrankreich. Es ist schön dort, nur: Diese Region, die Region von Madame Grolier ist Hochburg des Front National. Sie weiß, wovon sie spricht.

Grolier ist auf La Réunion geboren, einer Insel im Indischen Ozean, man bezahlt dort mit Euro. Die Insel gehört zu Frankreich, keine Frage, und sie gehört zu den Zeugnissen französischer Kolonialgeschichte. Nachkommen dieser Zeit leben heute auf dem Festland, dort, wo Anhänger des Front National seit Wochen brüllen: "On est chez nous", wir sind hier bei uns.

Sicherheit ist überall in Frankreich das Thema

An diesem Wahlabend, der über das Schicksal Frankreichs entscheiden soll, stellt sich also die Frage, wer mit "wir" gemeint ist. Der Terror hat Menschen getroffen, die nun unsicher sind, ob man sich in Gefahr begibt, wenn man in einem Straßencafé sitzt und isst, so wie Marie-Edmée Grolier in der Rue Saint-Maur. Viele machen es weiterhin, keine Frage, wenn auch mit arg ungutem Gefühl.

Seit jenem 13. November 2015 ist Sicherheit überall in Frankreich das Thema, der Hass sowieso. Elf Millionen Menschen haben den Front National gewählt, die Antwort vieler dieser Menschen auf den Terror lautet nun "wir sind doch bei uns", sie meinen immer öfter aber: "ihr nicht".

Ihr, die Kinder von Einwanderern; ihr, die Einwanderer; ihr, die Franzosen, die vielleicht ein bisschen anders heißen, ein bisschen anders aussehen, so wie Marie-Edmée Grolier?

Ortswechsel.

Der neue Präsident Emmanuel Macron tritt im Hof des Louvre vor die Menge. Das weltberühmte Museum, einst die Residenz französischer Könige und heute Magnet für Millionen Touristen aus aller Welt, symbolisiert wie kein anderer Ort in Paris eine Symbiose aus Tradition und Moderne.

Dieser Ort ist Sinnbild eines Frankreichs, das nun mal schwankt zwischen historischem Erbe und rasanter Zukunft, zwischen Millionenkunst und Selfiesticks. Nicht rechts, nicht links, das war das Motto dieses Wahlkampfs, Emmanuel Macron will vereinen, die politischen Pole aufbrechen, erreichbar sein, und zwar für alle Menschen in Frankreich.

Wer genau ist denn nun "wir"?

Was passt da besser als an einem Ort zum Volk zu sprechen, der für alle Menschen in der Mitte der Hauptstadt liegt? Und so steht Macron an diesem Abend zwischen dem rechten und dem linken Flügel des Louvre, genau in der Mitte also, und sagt: "Ich werde euch mit Liebe dienen." Er sagt: "Ich will das Leben jedes Einzelnen verbessern."

Ist das also das "Wir"-Gefühl? Ist Frankreich wieder bei sich? Vereint, statt gespalten?

Die Anhänger von Le Pen wollen weitermachen

Die Reise durch den Wahlabend ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Auf der Suche nach einer Antwort muss sie, es führt kein Weg daran vorbei, noch ein Stückchen weiter nach rechts gehen, nach rechts außen, um genau zu sein. Métro-Linie 1 in den Wald von Vincennes, am östlichen Rand von Paris, dorthin, wo Menschen wohnen, die Freude an der Natur haben oder auf ein bisschen günstigere Mieten hoffen. Kurz vor der Endstation sitzen nur noch vier, fünf Menschen im Abteil. Genau hier feiert Marine Le Pen ihren Wahlabend, in einem Seehaus, ein unverfänglicher Ort. Louvre, Bastille, Arc de Triomphe, kann ja alles noch kommen.

Vor diesem Seehaus also steht Jean Diego. Die Rahmendaten: 30 Jahre alt, Le-Pen-Fan, dunkelblaues Jackett, hellblaue Rose am Revers, etwas enttäuscht. 34 Prozent hat die FN-Chefin geholt, 38 bis 40 Prozent hätten es schon sein dürfen, sagt Diego, aber keine Bange: "Ich mache weiter."

Frage also auch an ihn: "On est chez nous", wer genau ist denn nun "wir"? Antwort: Chinesen würden auch von ihrem China reden, Algerier sowieso, daran sei nichts Verwerfliches, außerdem dominiere Deutschland die gesamte EU, die Einwanderung nach Frankreich sei unkontrolliert, die Wirtschaft am Boden - und das alles wollen "wir" nicht.

Was Diego will, ist mehr Konzentration auf Frankreich (er spricht von geschlossenen Grenzen), mehr Demokratie (er spricht von Volksabstimmungen), eine Presse, die "ihre Arbeit endlich mal richtig macht" (er spricht von Medien, die den FN als rechtsextrem bezeichnen). Der gelernte Informatiker wird sich weiterhin für Marine Le Pen engagieren, in der neuen "Allianz der Patrioten" - noch am Abend macht die Meldung die Runde, dass sich der Front National neu ausrichten wolle, womöglich auch umbenennen.

Das alles klingt sehr professionell, fast abgekartet, und es wird klar, so richtig raus mit der Sprache will Diego nicht, will hier niemand, die Frage nach dem "Wir" kann auch verfänglich sein. Viele Reporter geben auf, es ist bald Mitternacht, Kameraleute mit tiefen Augenringen schleifen ihre Stative durch die Straßen von Vincennes, auch das FN-Personal packt so langsam die Sachen. Die Partei betreibt einen eigenen privaten Sicherheitsdienst, man will ja schließlich unter sich bleiben. Eine Mitarbeiterin schleicht zur Métro-Station Saint-Mandé, sie arbeitet ehrenamtlich für den FN, erzählt sie, und das mit vollem Engagement.

Wenn das Einkommen knapp zum Leben reicht

Vielleicht klappt es hier mit einer Antwort, entschuldigen Sie bitte die Frage zu später Stunde, aber was genau heißt "wir sind bei uns"? Sie antwortet: Frankreich sei voll mit Illegalen, mit Migranten, man müsse da mal schleunigst auf die Bremse treten. Überall Gewalt von Ausländern, von Linken.

Zehn Euro netto verdient sie die Stunde - als Sicherheitskraft, nur eben nicht beim FN, sondern in den Clubs und Stadien der Stadt. Es reiche zum Leben, aber nicht zum glücklich werden, und überhaupt ist sie jetzt sehr müde, also tschüss. Sie steigt in die Métro-Linie 1 in Richtung Innenstadt, dort, wo Emmanuel Macron als neuer Präsident soeben mit dem Versprechen angetreten ist, gegen die Arbeitslosigkeit zu kämpfen, viel mehr noch, gegen die Perspektivlosigkeit, die Resignation, den Pessimismus, die Müdigkeit.

Und das "Wir"?

Am Ende des Abends hat vielleicht Marie-Edmée Grolier, die Schulleiterin aus Avignon, die klarste Antwort auf diese Frage. Auch sie verabschiedet sich in die Nacht - mit einem Wunsch: Macron müsse, als oberstes Ziel, die Arbeitslosigkeit der Jugend in den Griff bekommen - damit aus ihnen nicht die FN-Wähler von morgen werden. Damit der Terror keinen Nachwuchs mehr findet. Damit Frankreich endlich aufhört mit der Frage, wer dazugehören darf - und wer nicht.

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