Neuer Élysée-Vertrag:Vive la Vision

  • Der neue Élysée-Vertrag soll die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich erleichtern.
  • Kitas, Berufsschulen, Gesundheitsversorgung: Der Vertrag beinhaltet konkrete Projekte zur regionalen Zusammenarbeit.
  • Trotzdem will in Paris niemand den neuen Vertrag als Meilenstein feiern.

Von Nadia Pantel, Paris

Gut eine Woche ehe in Aachen die deutsch-französische Zusammenarbeit neu besiegelt wird, sitzt CDU-Größe Norbert Lammert auf einer Bühne in Paris und soll über die Freundschaft der Nachbarländer diskutieren. Der Saal ist übervoll, in der ersten Reihe hat der Publizist Alfred Grosser Platz genommen, leidenschaftlicher Garant der Versöhnung und Wegbereiter des Élysée-Vertrags.

Alles ist bereit für einen feierlichen Abend - wäre da nicht dieser leere Stuhl neben Lammert. Eigentlich sollte dort Richard Ferrand von der République En Marche sitzen, Präsident der französischen Nationalversammlung und damit das logische Pendant zum langjährigen Bundestagspräsidenten Lammert. Doch Ferrand hat kurzfristig abgesagt. Eine Stunde nach Veranstaltungsbeginn füllt schließlich Sylvain Waserman, Vize der Nationalversammlung, die Leerstelle auf dem Podium.

Gerade in der aktuellen EU-Krise fordern Befürworter der europäischen Integration viel von dem Duo Paris-Berlin. Es möge den anderen Europäern Vorbild und Ansporn sein, es soll beweisen, dass Nationalstaaten davon profitieren, wenn sie auf Kompromisse statt auf Abgrenzung setzen. Diese Erwartungen erfüllt die deutsch-französische Zusammenarbeit mal im Großen, mal im Kleinen. Und manchmal zeigt sie auch exemplarisch, wie mühsam es ist, zwei völlig unterschiedliche Systeme zu synchronisieren und zu verzahnen.

Selbst bei der vergleichsweise überschaubaren Aufgabe, die Terminkalender von Spitzenpolitikern zu koordinieren. So fehlte nicht nur vergangene Woche Richard Ferrand. Als vor einem Jahr der Élysée-Vertrag 55 Jahre alt wurde und eine Delegation des Bundestags die Nationalversammlung in Paris besuchte, verzichtete die französische Regierung darauf, von zwei Ausnahmen abgesehen, zu erscheinen.

Labor Europa: Entlang der Grenze am Rhein soll die regionale Kooperation verstärkt werden

Doch gerade weil sie viel Arbeit, Durchhaltevermögen und Geduld erfordern, sind die Fortschritte in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit so wertvoll. Auf dem Podium angekommen, ist es der Elsässer Waserman, der deutlich macht, was es eigentlich bedeutet, wenn zwei Länder Freundschaft schließen. Waserman hat im vergangenen Jahr einen ausführlichen Bericht über die Kooperation in der deutsch-französischen Grenzregion erarbeitet: "Dort spüren wir am genauesten, wo die Systeme nicht zusammenpassen." Die Nachbarschaft entlang 500 Kilometern Grenze nennt er "ein Labor für die Gesamtgesellschaft".

Der neue Élysée-Vertrag soll diesem Labor die Arbeit erleichtern. Eine gemeinsame Berufsschule in Kehl, ein Nahverkehrssystem mit einheitlichen Tickets für beide Länder, zweisprachige Kitas, eine Gesundheitsversorgung, die von beiden Seiten der Grenze aus in Anspruch genommen werden kann: Die Pläne für die regionale Zusammenarbeit gehören zum Konkretesten, das der neue Élysée-Vertrag zu bieten hat.

Nur neigen die Franzosen ähnlich wie die Deutschen dazu, das Fehlende stärker wahrzunehmen, als das Bestehende. Nachdem Präsident Emmanuel Macron mit seinen Forderungen einer Erneuerung der EU in Berlin auf sehr verhaltene Resonanz stieß, mag in Paris niemand den neuen Vertrag als Meilenstein der Zusammenarbeit feiern. Stattdessen weist ein hoher Diplomat darauf hin, dass Macron nicht nur die Beziehung zu Deutschland, sondern zu allen EU-Ländern vertiefen wolle. Noch nie habe ein französischer Präsident so viele europäische Hauptstädte besucht. Die Botschaft: Auf Berlin will man sich nur in Maßen verlassen.

Dabei weiß Macron natürlich, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit ganz anderen Methoden arbeiten muss als er. Es liegt nicht nur an Macrons selbstbewusstem Elan, dass er Visionen für Gesamteuropa entwickelt, es liegt schlicht im Zuschnitt des französischen Präsidialamtes, dass er in großen Reden die Laufrichtung des Landes vorgibt. Das deutsch-französische Tandem bewegt sich zur Zeit in einem Tänzelschritt aus Pariser Maximalforderungen, denen Berlin mal hinterherschlurft und mal nicht.

Marine Le Pen stilisiert den neuen Vertrag zum Verrat an der Nation

Die bevorstehende Unterzeichnung des neuen deutsch-französischen Vertrags in Aachen erinnert nun daran, dass Macrons Ideen nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris heftig umstritten sind. Die Oppositionsparteien nutzen den Anlass, um einmal mehr EU-Politik zum natürlichen Feind der französischen Bürger zu stilisieren. In einer Kampagne aus Lügen und verzerrten Fakten erklären sie die Neuauflage des Élysée-Vertrags zum Verrat an der Nation.

Anführerin der Hysterie ist einmal mehr die rechtsradikale Politikerin Marine Le Pen, deren Partei Rassemblement Nationale die größte französische Fraktion im Europaparlament stellt. "Ich warne die Franzosen vor dem Aachener Vertrag", sagte Le Pen Ende vergangener Woche in einer Videobotschaft an ihre Anhänger. Die Vereinbarungen seien "europäistisch", eine Schimpfwort-Neuschöpfung, die deutlich machen soll, dass alles Übel aus Brüssel und/oder Berlin kommt.

Macron plane, Teile des Elsass unter deutsche Vorherrschaft zu stellen. Er wolle den Sitz der Franzosen im UN-Sicherheitsrat zur Hälfte an Deutschland übergeben und Schüler dazu zwingen, Deutsch zu lernen. Der Vertrag zeige, dass Macron "nicht mehr an Frankreich glaubt, und den stückweisen Verkauf unseres Landes organisiert".

Die Lüge von der deutschen Übernahme Elsass und Lothringens verbreitet sich in Frankreich rasant über Facebook. Regierungsmitglieder und Abgeordnete der République en Marche sehen sich nun genötigt, Wahnvorstellungen korrigieren zu müssen, statt ausführlich auf die berechtigte Kritik derjenigen einzugehen, die den aktuellen Vertrag zu schwammig finden. Letzteren teilt das Élysée mit, der Text solle "Jahrzehnte leben, daher kann er keine genauen Vorgaben enthalten".

Der polemische Angriff auf die binationale Absprache kommt auch von links. Jean-Luc Mélenchon von der France Insoumise nennt den Text "von Grund auf schädlich". Macron "klebe an Deutschland" und vernachlässige die anderen europäischen Partner. Als einen der Partner, die laut Mélenchon Grund haben beleidigt zu sein, führt der Linke ausgerechnet die nationalistische Regierung in Warschau an, ohne dafür genauere Gründe zu nennen.

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