Neuer Gaza-Krieg:Zerfetzte Welt

Neuer Gaza-Krieg: Palästinenser laufen durch die Trümmer eines Gebäudes in Gaza-Stadt, das bei einem israelischen Luftangriff am Freitag zerstört worden ist.

Palästinenser laufen durch die Trümmer eines Gebäudes in Gaza-Stadt, das bei einem israelischen Luftangriff am Freitag zerstört worden ist.

(Foto: AP)

Bis sich irgendwann in diesem Krieg eine Seite zum Sieger erklärt, wird es unzählige Verlierer geben: Israel inszeniert seine Angriffe als Hatz auf die Hamas, die Folge aber sind zahlreiche zivile Opfer - ein Kollateralschaden, wie das beim Militär heißt. Doch wen soll das trösten, wenn alles in Trümmern liegt?

Eine Reportage aus dem Gaza-Streifen. Von Peter Münch

Mitten auf der Straße steht das Trauerzelt. Schwarze Planen sollen Schatten spenden und stauen doch nur die feucht-heiße Hochsommerluft. Auf Plastikstühlen sitzen ein paar Männer zum Kondolenzbesuch, und Mohammed Kawara, längst über 70 und krumm wie ein Olivenbaum, steht vor einem breiten Banner am Zelteingang und fuchtelt mit dem Stock. Er zeigt auf die Bilder, nennt die Namen, schüttelt den Kopf. Rechts oben fängt er an: "Mohammed Kawara, zwölf Jahre alt, Hussein Kawara, zehn Jahre; Abdallah Kawara, zehn Jahre; Bazel Kawara, acht Jahre; Kassim Kawara, acht Jahre." - "Sie sind Kinder", ruft er. "Welches Verbrechen haben sie begangen, haben sie etwa Raketen auf Israel abgeschossen?"

Natürlich haben sie das nicht. Fünf Kinder der Großfamilie Kawara aus Chan Junis im Gazastreifen und dazu noch drei ihrer erwachsenen Verwandten sind vielmehr Opfer einer israelischen Rakete geworden, die um drei Uhr nachmittags aus dem stahlblauen Himmel schoss. Der Tod von acht Menschen, allesamt Zivilisten, war nicht gewollt - das hat die israelische Armee inzwischen eingeräumt. Es war eine Verkettung unglückseliger Umstände, ein Kollateralschaden, wie das beim Militär heißt. Doch wen soll das trösten, wenn alles in Trümmern liegt?

Keine Antwort auf die Frage: Warum?

Der alte Mohammed Kawara ist das Oberhaupt des Clans. Mit einiger Ehrfurcht gruppieren sich die Trauergäste um ihn, er spricht mit lauter Stimme, sein Händedruck ist fest. Er ist keiner, den das Schicksal so schnell brechen kann. Doch nun hat eine einzige Rakete seine Welt zerfetzt, und er findet nicht einmal eine Antwort auf die eine Frage: Warum? Sein Neffe Ahmed, dem eines von zwei zerstörten Häusern gehört, soll Hamas-Mitglied sein, sagen die Israelis. Die Familie bestreitet das, und die Kinder waren gewiss nicht bei der Hamas. "Wir fühlen uns ausgeliefert", klagt der Alte, und als er das gerade sagt, zischt eine Rakete hoch übers Trauerzelt. Irgendwo in der Nähe hat eine der bewaffneten Palästinenser-Gruppen sie abgefeuert. "Flieg nach Tel Aviv", ruft Mohammed Kawara ihr hinterher.

Israel launches offensive in Gaza

Im Gazastreifen warten die Menschen voller Angst auf eine Bodenoffensive der israelischen Armee, deren Panzer bereits an der Grenze aufgefahren sind.

(Foto: Abir Sultan/dpa)

Viele Raketen fliegen tatsächlich nach Tel Aviv in diesen Tagen, nach Jerusalem, Aschdod, Aschkelon oder Sderot. Und im Gegenzug werden viele Raketen von israelischen F-16-Kampfjets, von Drohnen und von Schiffen aus in den Gazastreifen geschickt. Hundert Stunden ist der Krieg an diesem Freitag alt, und von Beginn an hat er eine fürchterliche Wucht entfaltet. Der Schrecken in Zahlen: Mehr als 1000 Angriffsziele haben die Israelis schon bombardiert, mehr als 500 Raketen feuerten die Hamas und ihre Hintersassen ab. Mehr als 100 Menschen sind bereits im Gazastreifen zu Tode gekommen, mehrere Hundert sind verletzt. Ein Ende ist so schnell nicht in Sicht, wohl aber eine Verschärfung mit dem angedrohten Einsatz israelischer Bodentruppen.

Selbst das Meer ist leer - die Fischer fürchten Israels Marine

Bis sich irgendwann einmal in diesem Krieg eine Seite zum Sieger erklärt, wird es unzählige Verlierer geben. Menschen, die nun wie Kamel Kawara - auch er ein Neffe des alten Mohammed - in den Trümmern nach Brauchbarem suchen. Wo sein Haus stand, haben sich Betonbrocken zu bizarren Gebilden übereinandergeschichtet. Hier baumelt eine goldfarbene Lampe aus einem Trümmerstück, das einmal die Wohnzimmerdecke war. Dort sind die Reste der grellbunten Tapete zu sehen, die wohl die Küche schmückte. Vom Laden nebenan, in dem Kamel Kawara Kleidung verkaufte, ist nichts geblieben außer einem Loch im Boden. Immerhin hat er es mit Frau und Kindern noch rechtzeitig nach draußen geschafft, doch gerettet hat er nichts als das nackte Leben. "Ich arbeite Tag und Nacht, um die Familie durchzubringen", sagt er, "und am Ende habe ich alles verloren." Hilfe kann er hier von niemandem erwarten. Von der Hamas oder den anderen Gruppen jedenfalls habe sich noch niemand blicken lassen. "Aber vielleicht kommen sie ja nach dem Krieg", sagt er - glauben tut er es selbst nicht.

Israel inszeniert diesen Krieg als Hatz auf die Hamas, mit Angriffen auf ihre Raketendepots, auf ihre Tunnel und Trainingszentren, auf die Häuser ihrer Führungsriege, auf die Führung selbst. Doch die sehr schnell steigende Zahl der Opfer hat den Menschen im Gazastreifen das Gefühl vermittelt, dass jeder zum Ziel werden kann, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Deshalb bleiben die meisten zu Hause, die Läden sind geschlossen. Selbst das Meer ist leer, weil die Fischer nicht mehr herausfahren aus Angst vor Israels Marine.

Angstvolle Lähmung hat sich über den Küstenstreifen gelegt

Von Beit Hanun im Norden bis nach Chan Junis im Süden des Gazastreifens fährt man über menschenleere Straßen. Begleitet allein vom ewigen Surren der Drohnen, die wie unsichtbare Insekten den Himmel beherrschen. Aufgeschreckt immer wieder durch dumpfes Donnern, dem irgendwo der Aufstieg einer Rauchsäule folgt.

Rechts die Überreste einer ehemaligen Ambulanz, die mit einer Tonne Sprengstoff eingeebnet wurde. Links das ausgebrannte Wrack einer Mercedes-Limousine, das Blech noch warm vom Feuer in der Nacht zuvor. Bei manchen Trümmern weiß man auf den ersten Blick nicht einmal, ob sie diesem Waffengang entstammen oder dem vorherigen. Der Gazastreifen mit seinem ewigen Kreislauf der Gewalt wäre ein weites Feld für Kriegsarchäologen, die die Schäden in Schichten abtragen könnten.

Nur an einem Ort herrscht hektisches Treiben: im größten Hospital

Angstvolle Lähmung hat sich ausgerechnet im Feier- und Fastenmonat Ramadan über den schmalen und nur 40 Kilometer langen Küstenstreifen gelegt - und nur an einem Ort herrscht rund um die Uhr hektisches Treiben. Es ist das Schifa-Hospital von Gaza-Stadt, das größte Krankenhaus im Küstenstreifen und nun der Ort des größten Durcheinanders. Hierher werden viele der Verletzten gebracht mit lautem Hupen, und noch vor den Ärzten und Pflegern stürzen sich die Fotografen auf die Opfer. Es ist ein Chaos, dessen auch mehrere Dutzendschaften der Polizei in blaugescheckten Uniformen kaum Herr werden können.

Im Hof des Hospitals ist eine Art Pressezentrum entstanden. Hier werden Neuigkeiten ausgetauscht, hier hat das "Medienbüro der Regierung" in der prallen Sonne eine kleine Bühne errichtet mit einem Rednerpult vor palästinensischer Flagge, auf der hochoffiziöse Informationen verbreitet werden. Doktor Aschraf al-Khedra aber hat keine Zeit für solche Schaufensterreden, er hetzt durch die Flure des Hospitals und kämpft mit dem weiter anschwellenden Notstand. "70 Prozent der Verletzten sind Zivilisten, zwei Drittel der Toten sind Frauen und Kinder", sagt er, "da sieht man, was für Verbrechen die Israelis begehen."

Von den Ärzten geht keiner nach Hause

Tag und Nacht sind die Ärzte im Einsatz. Keiner geht nach Hause, alle schlafen im Krankenhaus. Doktor al-Khedra selbst sieht in seinem zerknitterten weißen Kittel mit dem Emblem des Roten Halbmonds auf der Brusttasche aus, als hätte er schon lange keine Ruhe mehr gefunden. "Wir wissen nicht mehr, wie wir das bewältigen sollen", sagt er. Schon in normalen Zeiten herrscht hier Knappheit an vielem, doch nun droht alles zusammenzubrechen. "In zwei Tagen werden wir keine Medikamente mehr in Gaza haben", prophezeit er.

Bestätigt werden seine Sorgen und auch seine Vorwürfe von Christian Cardon, der das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) im Gazastreifen vertritt. Der Belgier ist gekommen, um sich im Schifa-Hospital einen Überblick darüber zu verschaffen, woran es mangelt. Doch auch ihm selbst sind allzu oft die Hände gebunden in diesem Krieg, der in seiner Wucht doch viele überrascht, die sonst so schnell nichts mehr verwundert.

Nur der Sprecher der Hamas scheint in allerbester Laune

Im Vergleich zum vorigen Waffengang im November 2012 beobachtet Cardon "eine Intensität der israelischen Angriffe, die sehr schnell ein sehr hohes Level erreicht hat". Deshalb gebe es auch so viele zivile Opfer - bei der Familie Kawara zum Beispiel oder auch in jenem Strandrestaurant mit dem fröhlichen Namen "Fun Time Beach", in dem am Donnerstagabend neun Menschen starben, die das Halbfinal-Fußballspiel zwischen Argentinien und den Niederlanden anschauen wollten. "Bei so heftigen Angriffen ist der Raum für Fehler einfach größer", sagt Cardon.

Hauptquartier des Schmerzes und der Sorgen

Heftige Klage führt er auch darüber, dass "wir unseren Job kaum noch machen können, weil sich die humanitären Helfer nicht mehr ungehindert im Gazastreifen bewegen können". Im Norden sei bereits ein Stützpunkt des Roten Halbmonds zum Ziel einer Rakete geworden, zwölf Verletzte habe es gegeben. Auch im Süden wurde ein Krankenhaus getroffen. Israel begründet solche Einschläge damit, dass die Hamas ihre Raketen ganz bewusst aus dicht bevölkerten Gegenden, aus den Hinterhöfen von Moscheen, Schulen oder Hospitälern abfeuere. Der Mann vom Roten Kreuz spricht von der Genfer Konvention, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung verbietet und die humanitären Helfer schützt.

So ist das Schifa-Hospital zum Hauptquartier des Schmerzes und der Sorgen geworden - nur einer hier scheint allerbester Laune zu sein. Fauzi Barhum sitzt mit einem übers bärtige Kinn genagelten Lächeln auf einem Stuhl im Schatten und erklärt die Lage an allen Fronten. Barhum ist seit Langem schon der Sprecher der Hamas, und im Augenblick ist er sogar fast der einzige von der Hamas, der noch spricht. Die gesamte Führungsriege ist abgetaucht in den Untergrund, in ein weitverzweigtes Netz von Tunneln und Bunkern, das sie hier als "Stadt unter der Stadt" beschreiben. "Sie sind weit weg von den Besatzern, damit sie ihre Aufgabe weiter erfüllen können", erklärt Barhum.

Die Islamisten ziehen Kraft aus der Isolation

Seine Aufgabe ist es derweil, dem Volk und den Medien die neuesten Siege zu verkünden. "Der Feind ist hysterisch", meldet er, "er ist überrascht vom Willen, der Entschlossenheit und den Möglichkeiten der Hamas." Bis ins mehr als 150 Kilometer entfernte Haifa reiche der eiserne Arm der Organisation, und auch die israelische Atomanlage in Dimona sei im Visier. Dabei gehe es, so erklärt er, nur um Verteidigung: "Sie greifen uns an. Wir sind die Opfer, sie sind die Kriminellen."

Wer Fauzi Barhum zuhört, der die Hamas in ihrem Verteidigungskampf in direkter Nachfolge von "Churchill und de Gaulle" sieht, der bekommt eine Ahnung davon, wie sehr die Islamisten gerade aus der Isolation ihre Kraft ziehen. Die jüngst erst gebildete Einheitsregierung mit der moderaten Fatah von Präsident Mahmud Abbas im Westjordanland war eines der ersten Opfer dieses Krieges. Nun schimpft Barhum über "den arroganten Abu Mazen, wie Abbas bei den Palästinensern heißt, "der uns alleingelassen hat". Auch die restliche Welt kann ihm gestohlen bleiben - solange sich im Gazastreifen selbst nur die Menschen wieder um ihre vorher so verhasste Führung scharen. "Alle hier in Gaza unterstützen heute den Widerstand", prahlt Barhum.

Die Zeit des großen Zusammenrückens

Alle in Gaza? Ebaa Rezek schweigt kurz, dann lächelt sie ein wenig unfroh, schließlich nickt sie. Sie nennt sich selbst eine "Aktivistin", ist eine moderne und obendrein mutige junge Frau, die enge Jeans und kein Kopftuch trägt und sich für Gleichberechtigung und Menschenrechte einsetzt. "Ich habe bestimmt schon einen Haufen Ärger mit der Hamas gehabt", sagt sie, und man glaubt es sofort. "Aber das ist jetzt völlig irrelevant. Ich bin jetzt pro Hamas, denn sie verteidigt das Volk." Jeder Krieg bringe der Hamas "enorme Unterstützung und neue Legitimität". Und selbst wenn der Krieg vorbei ist und verloren geht, so erklärt sie, "werden die Leute den Kampf so schnell nicht vergessen".

Es ist die Zeit des großen Zusammenrückens und nicht die Zeit, über ideologische Unterschiede zu reden. "Solche Fragen pissen mich an", sagt sie. Mit verzweifelter Solidarität stellt sie sich hinter den Aufruf der Hamas an die Bevölkerung, sich als menschliche Schutzschilde auf die Dächer von Häusern zu stellen, um deren Zerstörung durch die israelische Luftwaffe zu verhindern. "Das ist doch das Abc des unbewaffneten Widerstands", sagt sie, "ich würde mir wünschen, dass das eine breite Bewegung wird."

Die Familie eines Hamas-Mitglieds in Beit Hanun hat eine solche Heldentat gerade vorgemacht. Es hatte in diesem Fall, wie das regelmäßig zur Vermeidung ziviler Opfer geschieht, eine Vorwarnung der israelischen Armee per Telefon gegeben mit der Aufforderung, das Haus sofort zu verlassen. Stattdessen aber sind die Bewohner aufs Dach geklettert. Die Rakete wurde dann trotzdem abgefeuert von einem israelischen Kampfflugzeug. Acht Menschen haben ihr Leben verloren.

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