Der Begriff der konservativen Revolution galt stets als widersinnig. Eine Umwälzung der Verhältnisse zugunsten des Status quo bricht die Regeln des politischen Verstands. Eben deshalb konnte die Idee eines konservierenden Umsturzes in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre unerhörte Sprengkraft entfalten.
Ein nationales Bekenntnis? Ungarn demonstrieren gegen die Verfassungsänderung ihrer Regierung.
(Foto: AFP)"Der konservative Mensch ... ist jetzt notwendiger Erhalter und Empörer zugleich", postulierte Arthur Moeller van den Bruck in seiner Propagandaschrift "Das Dritte Reich". Woher auch immer ihr Ressentiment gegen die Verflüssigung der Geschichte herrührt, die Aufklärung, Autonomie und Individualität bewirken, die konservative Revolution will die Wiederauferstehung historischer kollektiver Größe. Einen solchen Revolutionstraum hegt auch Viktor Orbán in Ungarn.
Gleich nach dem Wahlsieg seiner Partei, der Fidesz, der ihr im April 2010 zusammen mit den Christdemokraten der KDNP die Zweidrittelmehrheit im Parlament eingebracht hatte, kündigte er die "nationale Revolution" an. Der Augenblick ist gekommen, wenn am heutigen Montag die neue Verfassung vom Parlament beschlossen wird. Doch die Regierungsmehrheit bringt mit diesem Akt ein politisches Kunststück bisher unbekannten Typs fertig. Sie installiert eine konservative Revolution unter dem Dach der Europäischen Union, mit allen Insignien der Demokratie.
Vordergründig richtet sich die neue Konstitution gegen die bisherige sowjetische Verfassung, die aus dem Jahre 1949 datiert. Deren kommunistischer Gehalt ist zwar seit 1990 entsorgt und durch demokratische Strukturen ersetzt. Doch das Pathos der historischen Zäsur, die auch die letzten Spuren des verhassten Gegners tilgt, lässt sich mit einem selbst aus der Taufe gehobenen Grundgesetz viel wirkungsvoller inszenieren.
Das alles aber würde nur die demokratische Transformation fortsetzen wie sonst in Osteuropa, herrschte in der neuen Verfassung nicht ein Geist, der aus den Tiefen des vergangenen Jahrtausends aufsteigt. Nicht dass Orbán und Fidesz die konservativen Revolutionäre der Weimarer Zeit schlicht eins zu eins kopieren würden. Die demokratischen Grundsätze bekämpfen sie nicht, ihre neue Verfassung bekennt sich dezidiert zu Republik, Rechtsstaat und liberalen Werten. Das hindert sie aber nicht, die Verfassung ideologisch im 11. Jahrhundert zu verankern, in der Gründungszeit des magyarischen Mythos (auch hier ganz nach Moeller van den Bruck: "Der konservative Mensch sucht heute wieder die Stelle, die Anfang ist"). Der Anfang, das ist das Reich des heiligen Stephan, der von 997 bis 1038 regierte.
Man muss diese Verschränkung von säkularer Jetztzeit und missionarischem Mittelalter nachvollziehen, um die Originalität dieser Revolution zu begreifen. Insbesondere das Herzstück der Demokratie, die parlamentarische Willensbildung, die damals alle konservativen Revolutionäre von Hugo von Hofmannsthal bis Carl Schmitt so aggressiv als Ausdruck von Entscheidungsschwäche und nationaler Selbstlähmung schmähten, erkennen die ungarischen Revolutionäre als legitimes Forum der politischen Machtausübung an. Aber darin, wie sie dies ausgestalten, beweisen sie den Zynismus der Nachgeborenen. Sie haben erkannt, wie man gerade das wichtigste demokratische Gremium zur Verfestigung der nationalen Revolution nutzen kann.
Mit dem Enthusiasmus einer über alle Kritik erhabenen Mission richten sie den Staat neu aus: Demokratie ist nicht mehr der Endzweck der Verfassung, sondern Medium eines hehren geschichtlichen Auftrags. Der Wortlaut des Auftrags ist niedergelegt im Text der Konstitution. Auf beispiellose Weise verbindet er sakrale Geschichtsbesinnung mit moderner Verfassungsidee.