Thomas Oppermann rauscht an den Kameras vorbei. Raus aus dem Willy-Brandt-Haus, schnell zum Wagen. Und dann wohl ins Bett. Es ist kurz vor sechs am frühen Mittwochmorgen. Oppermann, Parlamentsgeschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion hatte ganz am Schluss noch einen dicken Brocken für die Sozialdemokraten mitzuverhandeln: das Staatsangehörigkeitsrecht. Er bleibt dann doch noch kurz stehen in der Berliner Eiseskälte. Da, wo keine Kameras mehr aufgebaut sind. Minus vier Grad zeigt das Thermometer. Ja, der Optionszwang fällt. Alle ab 1990 in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern können künftig ihre beiden Staatsangehörigkeiten behalten.
Nach einem bald 17-stündigen Verhandlungsmarathon twittert um 4:52 Uhr Michael Grosse-Brömer von der CDU den Durchbruch.
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Danach trifft sich noch schnell die SPD-Seite. "Wann wir schreiten Seit' an Seit" singen sie, das alte Arbeiterlied, bevor Parteichef Gabriel seine Genossen unterrichtet. Wie nach einer Schlacht. Im Anschluss trifft sich die große Runde aus 75 Politikern von Union und SPD ( Hier finden Sie ein Organigramm, das den Aufbau der Verhandlungsrunden zeigt). Alles geht sehr schnell jetzt. Nur wenige Minuten sitzen sie zusammen. Einmütig wird der Vertrag angenommen.
Ralf Stegner, exponierter Parteilinker der SPD, steht ein wenig abseits in der Kälte. Auch er wollte nicht in die Kameras sprechen. Der große öffentliche Auftritt ist seinem Parteichef Sigmar Gabriel vorbehalten. Er wird um zwölf Uhr mit CDU-Chefin Angela Merkel und dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer den Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit präsentieren. An Leuten wie Stegner hängt es danach, den Vertrag auch den SPD-Mitgliedern näherzubringen. Sie werden in den kommenden zwei Wochen über den Vertrag abstimmen können.
Der Norddeutsche Stegner klingt nicht gerade euphorisch. Aber bestimmt. "Ich glaube, dass der Vertrag den Kriterien entspricht, die wir uns selbst gesetzt haben", sagt er. Es sei nicht alles erreicht worden. Aber insgesamt habe die SPD "ein gutes Ergebnis erzielt". Oppermann geht da weiter. Das sei ein Ergebnis, das "wir mit voller Überzeugung den SPD-Mitgliedern vorlegen können".
Anders wird es kaum gehen. Zeigen die führenden Leute in der Partei nur den Hauch eines Zweifels, kann der Vertrag am Votum der SPD-Mitglieder scheitern. Und das wäre "ein Desaster", wie unlängst Ex-SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück erklärte. Über die folgenden Punkte sollen die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bis zum 12. Dezember abstimmen.
Die bisher erzielten Einigungen:
- Leiharbeit: Dieses Arbeitsverhältnis soll stärker reguliert werden. Die Überlassung von Arbeitnehmern an eine Leiharbeitsfirma wollen Union und SPD auf 18 Monate begrenzen. Nach neun Monaten soll es zudem eine gleiche Bezahlung für Leiharbeiter und Stammbelegschaft geben,
- Doppelte Staatsbürgerschaft: In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern müssen sich künftig nicht mehr bis zum 23. Geburtstag für einen der beiden Pässe entscheiden. Die sogenannte Optionspflicht entfällt.
- Arbeitsmarkt und Mindestlohn: Von 2015 an soll flächendeckend und gesetzlich ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro festgelegt werden - mit einer kleinen Einschränkung. Tarifverträge, die einen Lohn unterhalb dieser Grenze vorsehen, sollen längstens bis 2016 ihre Gültigkeit behalten. Erst danach muss auch hier der Lohn auf mindestens 8,50 Euro pro Stunde angehoben werden. Nicht unter diese Ausnahmeregelung fallen Dumping-Tarifverträge wie etwa mit den christlichen Gewerkschaften. Diese müssen bereits ab 2015 angeglichen werden. Für bestimmte Gruppen wie Praktikanten oder Auszubildende soll es Ausnahmen geben. Derweil schwächten Union und SPD eine bereits gefundene Einigung bei den Managergehältern kurz vor Schluss wieder ab. Börsennotierte Unternehmen müssen nun doch kein Maximalverhältnis festlegen, um das die Vorstandsgehälter das Durchschnittseinkommen der Belegschaft höchstens übersteigen dürfen.
- Keine höheren Steuern: Trotz Mehrforderungen der SPD im Umfang von zwischenzeitlich 65 Milliarden Euro soll es keine Steuererhöhungen geben, sagte CDU-Vize Julia Klöckner im ZDF.
- Finanzen: Die Parteien haben sich offenbar auch auf einen Finanzrahmen für zusätzliche Ausgaben und Investitionen bis 2017 geeinigt. Danach sollen für die Projekte einer großen Koalition zusätzlich 23 Milliarden Euro ausgegeben werden. Außerdem sollen Städte, Gemeinden und Landkreise deutlich entlastet werden. Zusätzlich entstehende Spielräume beim Bund werden zu einem Drittel zur Entlastung der Länderhaushalte eingesetzt.
- Rente: Bei den Renten setzten Union und SPD jeweils ihre Wunschkonzepte durch. Der Kompromiss sieht so aus, dass die von der SPD geforderte abschlagfreie Rente mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren und die von der Union versprochene Besserstellung älterer Mütter, die vor 1992 Kinder bekommen haben, zum 1. Januar 2014 eingeführt werden. Der abschlagfreie Zugang soll aber schrittweise an die Altersgrenze 65 Jahre herangeführt werden. Auch die Erwerbsminderungsrenten sollen bis Mitte kommenden Jahres verbessert werden. Eine "solidarische Lebensleistungsrente" für Geringverdiener in Höhe von bis zu 850 Euro pro Monat soll hingegen erst ab 2017 kommen - sie wird damit quasi vertagt. Die Kosten für dieses Gesamtpaket waren zuvor mit mehr als 20 Milliarden Euro beziffert worden.
- Vorratsdatenspeicherung: Die Spitzen von Union und SPD haben sich darauf verständigt, die lange umstrittene Vorratsdatenspeicherung einzuführen und eine EU-Richtlinie umzusetzen. Das Projekt lag in der schwarz-gelben Koalition seit zwei Jahren auf Eis. Laut Vertragsentwurf vom Dienstag "soll ein Zugriff auf die gespeicherten Daten nur bei schweren Straftaten und nach Genehmigung durch einen Richter erfolgen". Ebenfalls zugegriffen werden darf auf die Daten "zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben". Deutsche Verbindungsdaten dürfen aber nur auf Servern in Deutschland gespeichert werden, nach Möglichkeit höchstens für drei Monate. Die EU-Richtlinie sieht bislang sechs Monate vor.
- Pkw-Maut: Union und SPD haben sich auf die Einführung einer Vignette auf deutschen Autobahnen geeinigt. Im Entwurf für den Koalitionsvertrag heißt es: "Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen angemessenen Beitrag der Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Pkw erheben (Vignette) mit der Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet wird. Dabei wird die Ausgestaltung EU-rechtskonform erfolgen." Dazu soll 2014 ein Gesetz verabschiedet werden. Die Maut-Einigung wurde unterschiedlich gewertet. Während die CSU von einem eigenen Erfolg ausging, wurde in Kreisen von CDU und SPD die Formulierung für den Koalitionsvertrag lediglich als Prüfauftrag gesehen. Außerdem soll die Lkw-Maut künftig außer auf Autobahnen auch auf allen Bundesstraßen erhoben werden.
- Klimapolitik: Ein von der SPD gefordertes Klimaschutzgesetz fand sich schon im Vertragsentwurf nicht mehr. Es hätte die deutschen Klimaziele verbindlich festgelegt. In der wichtigen Frage des Ausbauziels für erneuerbare Energien gibt es aber nach Angaben aus Verhandlungskreisen ein Ergebnis. Demnach soll ein Ökostromanteil von 45 Prozent bis 2025 und dann von 55 bis 60 Prozent bis zum Jahr 2035 angestrebt werden. Zuvor hatte die Union auf 50 bis 55 Prozent plädiert, die SPD hatte 75 Prozent als Ziel genannt. An der Zahl orientieren sich letztlich auch die Investitionsentscheidungen für neue Windparks, aber auch für neue konventionelle Kraftwerke.
- Ministerien: Union und SPD lassen die Aufteilung der Ministerien und ihre Besetzung in der großen Koalition vorerst offen. Dies soll erst bis Mitte Dezember nach dem Votum der SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag abschließend geregelt werden, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Verhandlungskreisen. Allerdings sollen die Ressorts, ihre Zuschnitte und die Verteilung auf die Parteien bereits Bestandteil des Koalitionsvertrages sein. Voraussichtlich wird die SPD in einem schwarz-roten Kabinett unter Kanzlerin Merkel sechs Ministerien bekommen, die CDU fünf (plus Kanzleramtsminister) und die CSU drei.
Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte wird nun die Basis einer Partei über den Koalitionsvertrag entscheiden. Wenn die Sozialdemokraten den Vertrag absegnen, könnte Merkel am 17. Dezember im Bundestag zum dritten Mal zur Kanzlerin gewählt werden. Das neue schwarz-rote Kabinett würde dann am selben Tag die Arbeit aufnehmen. Lehnen die SPD-Mitglieder den Vertrag jedoch ab, werden erneute Gespräche der Union mit den Grünen möglich, Neuwahlen aber wahrscheinlicher.
Den Entwurf zum Koalitionsvertrag (Stand Dienstag, 26. November 2013, 00:20 Uhr) finden Sie hier.
Mit Material von AFP, dpa und Reuters