Neue Protestkultur:Das kommunale Manifest

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Der Unmut der Menschen mit den Mächtigen entlädt sich wieder häufiger in Demonstrationen auf der Straße. Der Text eines französischen Komitees gibt der diffusen Wut nun einen theoretischen Rahmen.

Alex Rühle

Ein Text geht um in Europa. Erst lief er durch Frankreich, dann breitete er sich in England aus, jetzt ist er, nachdem eine wilde Übersetzung länger schon im Netz kursierte, auf Deutsch erschienen. Auch in Stuttgart und dieser Tage in Gorleben wurde er wieder unter den Protestierenden herumgereicht. Was schon deshalb eine gewisse Stringenz hat, weil sich die massenhafte Verbreitung dieses Pamphlets einer Protestaktion gegen Castortransporte verdankt: Im November 2008 wurde der Franzose Julien Coupat, Mitbegründer der philosophischen Zeitschrift Tiqqun, Kommunarde und Pariser Meisterschüler des Großphilosophen Giorgio Agamben, von Polizisten in der Nähe einer Eisenbahnstrecke gesehen, auf der justament in dieser Nacht ein Castortransporter von La Hague nach Gorleben fahren sollte. Die Strecke wurde durch Eisenhaken in den Oberleitungen sabotiert. Die Polizei verfolgte Coupat zu dem Zeitpunkt schon länger, weil sie in ihm den Autor des Textes vermutet, um den es hier geht: "L'Insurrection qui vient", zu Deutsch "Der kommende Aufstand" ( Nautilus-Verlag, Deutsch von Elmar Schmeda, 128 Seiten, 9,90 Euro), veröffentlicht von einer Gruppe, die sich selbst "Unsichtbares Komitee" nennt.

Die Bürger schweigen nicht mehr: Beim Castor-Transport von Frankreich nach Gorleben hat sich ein Demonstrant während einer Sitzblockade vor dem Atommüll-Zwischenlager zwischen zwei Bäumen angeseilt. (Foto: dapd)

Die französische Regierung las den Text als Anstiftung zum Terrorismus und die Anschläge als praktische Umsetzung seiner Theorien. Julien Coupat wurde unter Verweis auf das Buch wegen Verdachts auf "Bildung einer kriminellen Vereinigung mit terroristischen Zielen" verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gehalten, ohne dass sich Beweise gegen ihn finden ließen. Der Staat gab sich in diesen Monaten alle Mühe, als der böse Feind aufzutreten, als der er in "Der kommende Aufstand" beschrieben wird: immer neue Verfahrensfehler; kein brauchbares Belastungsmaterial, und obwohl ein Richter nach wenigen Wochen seine Freilassung anordnete, saß Coupat über sechs Monate in Untersuchungshaft. Er wurde dadurch zum Che Guevara Frankreichs, "L'Insurrection qui vient" zur auratischen Freiheitsfibel.

Das Besondere an dem Buch ist dessen glänzender Stil. Der Text kommt ohne das sonstige phraseologische Sperrholz linker Pamphlete aus, die Autoren schreiben mit situationistischem Schwung und gleichzeitig düsterrevolutionärem Zorn eine "Ästhetik des Widerstands" für das neue Jahrtausend. Der erste Teil ist in sieben "Kreise" unterteilt, ein Verweis auf Dantes Inferno. In der Hölle unserer Tage ist der Mensch eine kleine, überflüssige Konsum-Monade, der als Lebenssinn nur das kalte Neonlicht der Warenwelt bleibt. Das System ist überall, fast wie Gas ist es noch in die letzten Ritzen des Privatlebens gedrungen. Aber gerade weil es unbesiegbar und übermächtig ist, muss man jetzt dagegen aufbegehren.

Während die meisten Europäer seit zwei Jahren angststarr auf die vielköpfige Hydra der Krise blicken und darauf hoffen, dass alles noch mal gutgehen möge, wird hier mit heiterster Miene davon ausgegangen, dass die Katastrophe des Zusammenbruchs längst begonnen hat.

Diese Pose einer versonnenen und zugleich heroischen Melancholie macht den Text verführerisch schön, dazu kommt, dass in fast schon größenwahnsinnig selbstbewusster Geste alle Parameter einer dem Untergang geweihten Ordnung en passant abgehandelt werden: der Staat? "Kann gar nichts mehr". Die Opposition? Bewegungen wie Attac? Dienen nur dazu, den Laden immer neu, immer noch feiner auszujustieren. Arbeit? "Hat restlos über alle anderen Arten zu existieren triumphiert, genau in der Zeit, als die Arbeiter überflüssig geworden sind." Kurzum: Die ersten 60 Seiten sind eine Gegenwartsanalyse, so beißend wie poetisch, geschult an Guy Debord, Antonio Negri, Giorgio Agamben, und oft meint man Michel Houellebecqs Stimme durchzuhören, wenn da genüsslich die Kälte und Vereinsamung der Leistungsgesellschaft beschrieben wird.

Nun gibt es in Houellebecqs Romanen ja immer eine Welt der Großeltern, ländlich, freundlich, human, und in Gegensatz dazu die von Liberalismus und egoistischer Selbstverwirklichung verwüstete Kampfzone unserer Tage. Einen ähnlichen Antagonismus baut das Unsichtbare Komitee auf: Gegen den kalten Markt und die übermächtigen Strukturen des Staates stellen sie im zweiten Teil den Traum von der Kommune, autarke Netzwerke, die sich entziehen, deren Mitglieder in die Anonymität abtauchen.

Dieser zweite Teil lässt sich polemisch so auf einen Nenner bringen: Schafft ein, zwei viele Banlieues. Die französischen Unruhen von 2005, die Straßenschlachten in Griechenland, der "Schwarze Frühling" in Algerien - all das sind den Autoren Indizien dafür, dass der Aufstand längst begonnen hat. Der Aufstand, von dem das "Unsichtbare Komitee" träumt, soll nicht von bewaffneten Banden ausgehen (wobei es heißt, man solle sich schon Waffen besorgen, diese dann aber möglichst nicht einsetzen). Es geht eher darum, Sand statt Öl im Getriebe der immer absurderen Beschleunigung zu sein, Stromzähler abzuklemmen, Waren zu unterschlagen, Sozialleistungen zu erschleichen.

In diesem zweiten Teil muss man sich dann doch wundern über den pastellfarbenen Traum vom anderen Leben und der Lust am großen rhetorischen Bogen, dem aller diskursive Streit um die Mühen der Ebene, das Kleingedruckte des politischen Alltags zu banal ist. Zwar stellen sie selbst die Frage: "Was tun, wenn die Straße einmal erobert ist, weil die Polizei dort auf Dauer besiegt wurde?" Die utopische Hoffnung, dass das dann entstehende Vakuum mit Leben, Freude, Sinn erfüllt wird, ist aber von irritierender Naivität. Vielleicht leben in Frankreich ja bessere Menschen, im Rest der Welt gingen alle Versuche, den Staat abzuschaffen, daneben. Außerdem ist es grotesk, wie versucht wird, aus den Aufständen von 2005 den neuen, freien Menschen zu destillieren. Das Unheimliche an den Banlieue-Protesten war, dass sie so dumpf und amorph verliefen, ohne alle Forderungen. Ohne Sprecher. Es war ein stummer Aufstand vereinzelter Menschen, die die Infrastruktur ihrer Umgebung in Schutt und Asche legten. Und die damit nach den Aufmerksamkeitsgesetzen des Marktes funktionierten: Ich bin im Fernsehen, also bin ich.

All das kann man kritisieren. Aber das Buch trifft aus drei Gründen einen Nerv. Zum einen bezieht es eine Aura der Hellsichtigkeit aus dem Umstand, dass es geschrieben wurde vor dem kollektiven Schock der Finanzkrise, den es im Nachhinein zu antizipieren scheint. Zweitens machen der aphoristische Parlandostil, die heitere Gewissheit des Untergangs, die an Max Frischs Beobachtung erinnert, die Krise sei ein sehr produktiver Zustand, "wenn man ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nimmt", aus dem Text ein Weißbuch des Überlebens in stürmischen Zeiten. Der dritte Aspekt ist wahrscheinlich der beunruhigendste: Die totale Partizipationsverweigerung, dieses Hohelied auf den Privatismus - pardon: die Kommune - ist höchst beunruhigend in Zeiten, in denen sich europaweit die diffuse Unzufriedenheit, der Frust und die Angst immer heftiger entladen.

© SZ vom 11.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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:Warten auf die Tieflader

Im Morgengrauen entfernten Polizisten Atomkraftgegner von den Gleisen - manche mussten die Nacht in der Gefangenensammelstelle verbringen. Derzeit werden die Castorbehälter umgeladen. Auf der Straße nach Gorleben warten bereits die Demonstranten.

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