Verfassungsreform in der Türkei:Ein Staat namens Erdoğan

Verfassungsreform in der Türkei: Regent bis in alle Ewigkeit? In türkischen Medien wird bereits spekuliert, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan bis 2029 im Amt bleiben könnte.

Regent bis in alle Ewigkeit? In türkischen Medien wird bereits spekuliert, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan bis 2029 im Amt bleiben könnte.

(Foto: AFP)
  • Im türkischen Parlament soll eine Verfassungsänderung diskutiert werden.
  • Sie würde die Türkei zur Präsidialrepublik machen und die Machtfülle Erdoğans absichern.
  • Die Opposition will dagegen kämpfen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Es ist schon so, dass den Abgeordneten von Erdoğans schier allmächtiger Regierungspartei AKP auch einmal Zweifel gekommen sind. Der Gedanke also, ob so viel Macht allein beim Staatspräsidenten wirklich gut aufgehoben ist.

Ende Dezember war das, der Vorschlag für eine neue Verfassung, die sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan so sehr wünscht, wurde im Parlamentsausschuss behandelt. Die Abgeordneten der Regierungspartei und die der Opposition stritten heftig. Parteichef Binali Yıldırım musste sich in diesen Tagen besonders viel Zeit für seine Leute nehmen. Etwa zwanzig AKP-Parlamentarier sollen sich bei einem Treffen mit ihm zu Wort gemeldet haben. Die Mehrheit mit Sorgen und Kritik. Einer erzählte Journalisten hinterher sinngemäß, sie gingen davon aus, dass Erdoğan bis in alle Ewigkeit regiere. Er frage sich: Was ist, wenn wir mal nicht mehr regieren? Wenn wir die anderen sind, und man selbst mit so wenig Einfluss und Kontrolle und einem geschwächten Parlament ausgestattet sei?

Die Zweifel mögen noch immer vorhanden sein. Am Ende aber überwog dann doch wieder, was Erdoğan und die Vollstrecker seines Willens für richtig halten: Am Montagabend begann im Plenum des türkischen Parlaments die Debatte über eine der einschneidendsten Verfassungsänderungen in der Geschichte der türkischen Republik. Er geht um den Wechsel vom parlamentarischen System zum Präsidialsystem "türkischer Prägung". Mit anderen Worten: Die Verfassung soll Erdoğans Machtfülle angepasst werden.

Türkische Kommentatoren versuchten die historische Einordnung: Die Verfassungsreform sei so bedeutsam wie das Ende des Sultanats und die Republikgründung im Jahr 1923 sowie später der Übergang vom Einparteiensystem zum Mehrparteiensystem 1946. Der Änderungsvorschlag umfasst 18 Artikel. Sollte er das Parlament mit der Mehrheit von mindestens 330 Stimmen passieren, werden die Türken in einem Referendum entscheiden, ob sie tatsächlich bereit sind, mit Erdoğan diesen Schritt zu gehen. Er würde quasi zum Alleinherrscher aufsteigen, formal jedenfalls. Faktisch regiert er heute schon so. In den Umfragen halten sich Befürworter und Gegner die Waage.

Natürlich regiert niemand ewig, aber in den Zeitungen ist schon die Rede davon, dass Erdoğan zumindest bis 2029 Präsident bleiben könnte. Vorausgesetzt, die Bürger nehmen das neue System an.

Die Rechnung geht so: Nach einer Übergangsphase soll das Präsidialsystem 2019 voll wirksam werden. Per neuer Verfassung darf Erdoğan zwei Amtszeiten zu je fünf Jahren im Amt bleiben. Erdoğan argumentiert, das Präsidialsystem werde die Türkei stabiler machen. Er brauche nur mehr freie Hand. Die hat er jetzt zwar auch schon, er regiert nach dem Putschversuch im Juli und zahlreichen Terrorattacken unter dem von seiner Regierung verhängten Ausnahmezustand.

Die Opposition will "kämpfen, um die Türkei zu retten"

Im Moment ist es nur so, dass niemand voraussagen mag, was im nächsten halben Jahr überhaupt wird. In jedem Fall dürfte die Opposition es im Land künftig noch viel schwerer haben, Erdoğan und seine AKP wieder von der Macht zu verdrängen. Erdoğan im Präsidialsystem, das bedeutet nicht nur, dass er seine zwei Stellvertreter und die Minister benennt und wieder abruft. Sein Einfluss reicht bis weit in die Justiz hinein. Bei der Besetzung zentraler Kontroll- und Entscheidungsgremien bestimmt er mit. Direkt, indem er das Personal selbst ernennt. Indirekt, indem das Parlament entscheidet, in dem aber seine Partei aller Voraussicht nach mit großer Mehrheit handeln kann. Mit den angestrebten Änderungen soll Erdoğan wieder seiner AKP angehören dürfen. Der heutigen Verfassung zufolge ist er zu Neutralität verpflichtet.

Zu erwarten ist tatsächlich: Politik aus einem Guss. Oder wie es Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der säkularen CHP zu Beginn der Debatte formuliert: Die Türkei verwandele sich in einen "Parteistaat" unter "Ein-Mann-Herrschaft". Für Kılıçdaroğlu ist es schon ein Erfolg, dass die Parlamentsdebatte überhaupt im Fernsehen übertragen wird. Das soll einigen in der AKP gar nicht so recht gewesen sein, aber Parteichef Binali Yıldırım setzte sich darüber hinweg.

Kılıçdaroğlu hatte die Bürger aufgerufen, sie sollten sich vor die Fernseher setzen und Zeuge werden, wie seine CHP darum kämpfen werde, die Türkei zu retten. Noch bevor dieser Kampf im Parlament überhaupt angefangen hat, liegt vor dem Gebäude in Ankara Tränengas in der Luft. Gegner der geplanten Verfassungsreform sind demonstrieren gegangen. Darunter sind auch viele Abgeordnete der CHP. Mit Tränengas und Wasserwerfern geht die Polizei gegen die Gruppe vor.

Die Türkei ist in diesen Tagen ein Land zwischen Allmacht und Ohnmacht. Eigentlich hat es ganz andere Sorgen als Erdoğans Machtzuschnitt. Seit Monaten wird es von Terror heimgesucht. Türkische Soldaten kämpfen auf syrischem Boden. Viel Opposition im Parlament ist auch nicht mehr übrig geblieben.

Die Pro-Kurden-Partei ist demontiert. Ihre Führer sitzen im Gefängnis

Das Establishment der ultranationalistischen Partei MHP, vor anderthalb Jahren noch Gegner des Präsidialsystems, will Erdoğan nun jene mindestens 14 Stimmen liefern, die seiner AKP fehlen, um das Referendum einleiten zu können. MHP-Chef Devlet Bahçeli zieht es in die Nähe der Macht, so hofft er, das Überleben seiner Partei sichern zu können. Die prokurdischen Partei HDP, im vergangenen Jahr noch großer Lichtblick der türkischen Politik, scheint demontiert. Ihr charismatischer Vorsitzender Selahattin Demirtaş und zahlreiche Abgeordnete sitzen im Gefängnis.

Die Regierung verfolgt sie wegen des Terrorverdachts, sie seien angeblich Handlanger der Terrororganisation PKK. Nachgewiesenermaßen sind sie Gegner von Erdoğans Präsidialsystem. Demirtaş hielt mal eine Rede, die nur aus dem Satz bestand, es niemals zuzulassen, dass Erdoğan sich zum Superpräsidenten kürt.

Gut zwei Wochen soll das Parlament diskutieren. "15 historische Tage", schreibt die Zeitung Habertürk. Es geht mal wieder um alles in der Türkei.

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