Neue Kohl-Biografie:Der Koloss von Bonn

Soll der Riesenstaatsmann Kohl in rund 1000 Seiten auf Normalmaß heruntergeschrieben werden? Bald 30 Jahre, nachdem Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, versucht sich Hans-Peter Schwarz an einer Biographie. Dabei arbeitet er eher mit Einfühlung denn mit tatsächlicher Recherche.

Norbert Frei

Ob ihm klar sei, dass er dem direkten Nachfolger Adolf Hitlers gegenübersitze, fragte Helmut Kohl seinen englischen Besucher bei einem Gespräch bald nach Unterzeichnung des EU-Vertrags 1992. Timothy Garton Ash war wohl einigermaßen perplex, aber der Gedanke seines Historikerkollegen im Kanzleramt war kaum von der Hand zu weisen: Lässt man die Übergangsfiguren nach Hitlers Selbstmord beiseite, dann war Kohl in der Tat seit 1945 der erste Regierungschef eines vereinten Deutschland.

Helmut Kohl (CDU) und seine Frau Maike Kohl-Richter im August 2012

Helmut Kohl (CDU) und seine Frau Maike Kohl-Richter im August 2012

(Foto: dapd)

Die Szene kommt einem in den Sinn, wenn man sieht, wie Hans-Peter Schwarz seine monumentale Kohl-Biografie eröffnet: Was in Joachim Fests "Hitler"-Buch die "Vorbetrachtung" war und von "historischer Größe" handelte, heißt bei Schwarz "Prolog", er räsoniert über den "Riesen im dunklen Mantel". Und wo Fest seinen Stoff durch "Zwischenbetrachtungen" gliederte, sind es bei Schwarz "Betrachtungen".

Doch damit sind die Parallelen auch schon zu Ende. Verglichen mit Fests weit ausgreifenden Gedanken über Hitler wirken Schwarz' Allegorien ein wenig aufgesetzt. Soll man das als Hinweis auf das Ende nehmen: Dass der Riesenstaatsmann Kohl nach rund 1000 Seiten auf Normalmaß heruntergeschrieben sein wird?

Hans-Peter Schwarz, anerkannter Adenauer-Biograf, Autor einer frühen Studie über Ernst Jünger und Verfasser eines weniger gelobten Porträts des Großverlegers Axel Springer, hebt auch in seinem neuen Buch genretypisch an. Kein Bundeskanzler vor oder nach Kohl sei "so tief in einer Industriestadt verwurzelt" wie dieser im "Chicago der Pfalz". Ausgehend von den Besonderheiten Ludwigshafens erläutert der Autor den Volkscharakter der Pfälzer. Das ist unterhaltsam, hilft vor allem aber über die Unschärfen des Bildes hinweg, das von dem jungen Kohl gezeichnet wird.

Vielleicht hängt es mit der generationellen Nähe des Biografen (Jahrgang 1934) zu seinem Helden (Jahrgang 1930) zusammen, dass Schwarz hier eher mit Einfühlung arbeitet als mit gezielter Recherche.

In den 60ern: "Adenauers Enkel" und liberaler Parteireformer

Mit Blick auf Kohls gutkatholisches Elternhaus im Dritten Reich werden immerhin die Ambivalenzen deutlich: Der Vater, Berufssoldat im Ersten Weltkrieg und als "Patriot" auch im Zweiten trotz Bedenken dabei, hatte so wenig wie die Mutter Argumente gegen die bescheidene HJ-Karriere ihres Jüngsten, der es als "Pimpf" zum Führer einer Jungenschaft brachte.

Hans-Dietrich Genscher Helmut Kohl 1982

Helmut Kohl (CDU, r) und Hans-Dietrich Genscher (FDP) während einer Kabinettssitzung im Omktober 1982

(Foto: dpa)

Wenn es danach für Helmut Kohl zwischen den zerbombten Industrieanlagen seiner Heimatstadt irgendwelche prägenden Erlebnisse gegeben haben sollte, so bleiben sie im Nebel einer Nachkriegsgeschichte verborgen, deren eigentliche Sensation das unglaubliche Wachstum des Protagonisten gewesen zu sein scheint. Dass dieser "harte Bursche" (Schwarz) sich seiner körperlichen Riesenhaftigkeit sehr bewusst ist und dass er es versteht, daraus Nutzen zu schlagen, zeigt sich früh.

Kohls Studium ist nicht groß der Rede wert. Seine später viel bespöttelte Dissertation über die politische Entwicklung in der Pfalz nach 1945 ist lediglich ein Karrierebaustein. Auch die Stelle beim Landesverband der Chemischen Industrie, die der Frischpromovierte 1959 antritt, ist nichts, wofür er sich verzehrt. Aber sie ermöglicht endlich die Heirat mit Hannelore Renner - und lässt Kohl Zeit für seine wahre Leidenschaft: Mit enormem Ehrgeiz bahnt er sich seinen Weg von der Jungen Union, deren Landesvorstand er längst angehört, über die Ludwigshafener Kommunalpolitik in den Mainzer Landtag. Dort beginnt er, 29 Jahre jung, die behäbig gewordenen CDU-Granden aufzumischen.

Schon vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 1969 verkauft sich Kohl listig sowohl als "Adenauers Enkel" wie auch als liberaler Parteireformer, der Gleichgesinnte um sich zu scharen weiß und die Talente im Zweifel eher links der Unionsmitte entdeckt. Sein Biograf lässt offen, wie weit ihm das imponiert, zeiht Kohl aber mehr als einmal der "Ämtergefräßigkeit". Doch dieser Eindruck entsteht auch dadurch, dass Schwarz sich für die Sachthemen kaum interessiert, mit denen es Kohl in seinen vielen Funktionen vor der Kanzlerschaft zu tun bekam. Stattdessen stürzt er sich in die Details von Machtkämpfen und Freund-Feind-Geschichten.

Kohls Biograf scheint an der Sprache seines Helden zu leiden

Konsequent im Präsens gehalten, ergibt das den für Schwarz charakteristischen Schmiss, erbringt glänzende Miniaturen wie jene über Elisabeth Noelle-Neumann (eine "gut getarnte Nationalistin"), schließt Redundanzen allerdings nicht aus. So heißt es zum Beispiel über den CDU-Bundesvorsitzenden und seine Mannschaft Mitte der 70er-Jahre: "Wie Kohl und Biedenkopf den schon nicht mehr ganz so schläfrigen, aber durchaus zu größeren Leistungen fähigen CDU-Gaul bundesweit auf Trab bringen, kann hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden und interessiert in diesem Zusammenhang auch nicht."

Wer nach diesem Satz glaubt, nun sei es genug über den frischen Wind in der Bonner Parteizentrale, stellt bald fest, dass er acht weitere Seiten über den Umbau der Beziehungskisten im Adenauer-Haus gelesen hat. Immerhin weiß er nun aber auch, dass an dem Gemunkel über Helmut Kohl und seine lebenslange Büroleiterin Juliane Weber garantiert nie etwas dran war.

Dass er Kohls rhetorische Künste für unterentwickelt und seine schwammige Sprache für schwer erträglich hält, gibt Schwarz wiederholt zu verstehen. Die "O-Töne" seines Helden hält er knapp. In dieser Biografie kommt Kohl wenig zu Wort.

Anders dagegen dessen - nächst Helmut Schmidt - härtester Widersacher Franz Josef Strauß: Der wird nach der 1976 knapp verlorenen Bundestagswahl, bei der Kanzlerkandidat Kohl ganze 48,6 Prozent einfährt, genüsslich zitiert: "Jetzt gibt es keine Pietät mehr, jetzt wird gestorben." Schwarz breitet aus, wie sich Strauß den Frust von der offensichtlich alkoholisierten Seele redet, als die in Wildbad Kreuth beschlossene Fraktionstrennung zurückgenommen werden muss, weil Kohl ziemlich glaubhaft mit der Ausdehnung der CDU nach Bayern drohen kann: "Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen."

Nachdem dann Strauß 1980 die Wahl versemmelt hat, braucht der Partei- und Fraktionsvorsitzende Kohl eigentlich nur noch abzuwarten, bis seine seit den 60er- Jahren gepflegte Duzfreundschaft mit Hans-Dietrich Genscher Früchte trägt. Es kommt zur schwarz-gelben Regierung.

"Schwadronierendes Genie des Durchwurstelns"

Buchvorstellung: Helmut Kohl. Eine politische Biographie

Der "harte Bursche" aus dem "Chicago der Pfalz" wurde vor 30 Jahren Bundeskanzler. In einer monumentalen Biografie nähert sich der Autor Hans-Peter Schwarz der Frage, wofür Helmut Kohl eigentlich stand.

(Foto: dapd)

Die Installierung des ersten "bürgerlichen" Kabinetts seit 1966 begleiten auf der Linken schrille Befürchtungen und auf der Rechten Hoffnungen auf eine "geistig-moralische Wende". Doch es trifft ein, was journalistische Haudegen wie der Springer-Vertraute Herbert Kremp, auf den sich Schwarz oft und gern beruft, seit Langem prophezeiten: Mit Kohl ist die erhoffte konservative Revolution nicht zu machen.

Auch als Kanzler richtet sich der Mann der Mitte, nach stotterndem Start, bald wieder so ein, wie er es am besten kann: im direkten Gespräch in kleiner Runde, als Dauertelefonierer, als schwadronierendes Genie des Durchwurstelns. Anders als zu Hause bleibt aber die Anerkennung im Ausland nicht aus. In meisterlichen Beziehungsstudien schildert der Autor, wie der beseelte Europäer Kohl mit dem nationalbewussten Mitterrand zusammenfand und wie schwer er es mit der kühlen, germanophoben Margaret Thatcher hatte. Das Bitburg-Fiasko mit Ronald Reagan wischt Schwarz als von den linken Medien aufgedonnert beiseite - und zählt zu Kohls Schwächen dessen nun wachsende Umsicht in geschichtspolitischen Fragen.

In den 80er-Jahren soll Kohl fast alles falsch gemacht haben und in den 90ern fast alles richtig

An Missgriffen ist, wie uns vorgeführt wird, in der Innenpolitik der 80er-Jahre kein Mangel; die Kapitelüberschrift "Ein mittelmäßiger Bundeskanzler?" ist nicht nur rhetorisch gemeint. Freilich ist es die Kritik der Konservativen, die dem Biografen imponiert, nicht die des linken Flügels der Union oder gar die der Oppositionsparteien. Und auffallend ambivalent bleibt der Respekt, den Schwarz der Tatkraft des - von ihm in Anführungszeichen gesetzten - "großen Europäers" zollt. Kohl hat schon fast alle enttäuscht, als 1989 seine Stunde kommt. Doch jetzt tritt er beherzt an das Fenster der Gelegenheit, das sich den Deutschen öffnet, und macht, wie Schwarz befindet, als "Architekt des neuen Europa" und "Euro-Fighter" in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit (fast) alles richtig.

In seiner Darstellung der deutschen Einigung weiß Schwarz Dramatik mit kluger Analyse zu verbinden. Dass das salbungsvolle Wort vom "Kanzler der Einheit" den Kern der Sache nicht trifft, bleibt unausgesprochen, wird aber in der Schilderung der Krisen der 90er-Jahre deutlich. Am Ende steht das Wechselbad von lakonisch hingenommener Abwahl, Comeback als Kultfigur der bürgerlichen Jugend und gefeiertes Monument auf internationaler Bühne, zerstörerischem Spendenskandal und dem durch den Suizid von Hannelore Kohl besiegelten Scheitern einer Ehe.

Kohls Kritiker von rechts werden sich, zumal in der gegenwärtigen Krise Europas, durch vieles in Schwarz' Wälzer bestätigt sehen. Kohls Kritiker von links könnten grübeln, ob inzwischen nicht etwas Ähnliches ansteht wie nach 1990 die späte Anerkennung der Westintegration, die den Historiker Heinrich August Winkler zu dem Befund von der "posthumen Adenauerschen Linken" führte.

Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie. DVA, München 2012. 1052 S., 34,99 Euro. Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena.

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