Neue Bürgerlichkeit:Wie der Neo-Bürger die Parteienlandschaft umkrempelt

Eigentlich wurde das Bürgertum in den 60er Jahren zu Grabe getragen. Doch seit einigen Jahren regt sich eine neue Sehnsucht nach Halt im Herkommen und tröstlicher Verlässlichkeit. Was zunächst nach einer Aufforderung zum Einkauf bei Manufactum klingt, könnte allerdings handfeste politische Folgen haben.

Johan Schloemann

Was könnte das sein, die "neue Bürgerlichkeit", die jetzt nach der Urwahl-Entscheidung der Grünen an Raum gewinnen soll? Vielleicht dies: Ein Sankt-Martins-Zug an einem dunklen Novemberabend in einer deutschen Großstadt. Unzählige selbst gebastelte Laternen leuchten da, es ist ein Massenauflauf der Familien. Doch im Martinszug quatschen die Eltern dann wild durcheinander, sie schauen auf ihre Smartphones, die um die Wette leuchten - anstatt wie früher mitzusingen oder still und andächtig dem Staunen der Kinder zu folgen. Es geht bei dem Gedenken an einen Heiligen, der in der Kälte barmherzig seinen Mantel teilte, ungefähr so zu wie samstags in der Fußgängerzone.

Das ist sie, die heutige Gespaltenheit, mit der auch die politischen Parteien zu rechnen haben. Einerseits suchen die Menschen das traditionelle Ritual, den Zusammenhalt, die Geborgenheit. Andererseits herrscht die Vereinzelung, die Selbstbezogenheit, ein eher konsumentenmäßiger Zugang zum öffentlichen Leben.

Das heißt nicht, dass das Bedürfnis unecht wäre: der Wunsch nach ein wenig Halt im Herkommen, nach ungezwungener, aber doch tröstlicher Verlässlichkeit, nach dem, was man postmaterielle Werte nennt. Sehr stark ist im gegenwärtigen Deutschland ein Mittelstand, nicht zuletzt in den Städten, der eine große lebensweltliche Liberalität mit solidarischer Moral verbinden möchte.

Maximale Toleranz im Privaten, in der Gesellschaftspolitik, trifft da auf null Toleranz gegenüber Auswüchsen kapitalistischer Verantwortungslosigkeit. Seit den Erschütterungen der Finanzkrise sehnen sich diese Neo-Bürger noch mehr nach Mäßigung, Natürlichkeit, Fürsorge, mitunter auch nach den Resten der Tradition und etwas mehr Ordnung und Kontrolle.

Dies sind nicht so leicht fassbare Stimmungen, die sich aber in der Parteipolitik und in Wahlentscheidungen niederschlagen können. Bestimmte Wähler, nicht nur bei den Grünen, dürften sich heute bei einer unprätentiös und vernünftig wirkenden, kirchlich engagierten, verheirateten Mutter zweier Kinder wie Katrin Göring-Eckardt wohler fühlen als bei der früheren Ton-Steine-Scherben-Mitarbeiterin Claudia Roth, deren Flippigkeit inzwischen etwas Gestriges hat. Und Jürgen Trittin ist ohnehin ein früherer Bürgerschreck, der längst ins seriöse Fach gewechselt ist.

Die Angst vor Schwarz-Grün

Die Konservativen tun sich, so heißt es, schwerer, jene veränderten Milieus anzusprechen. Das mag stimmen, nicht nur in Stuttgart; aber auch dies ist wiederum von Stimmungslagen abhängig und nicht unbedingt von lokalen Wahlen oder von der Auswahl der Spitzenkandidaten anderer Parteien auf die künftige Bundestagswahl hochzurechnen.

Jedenfalls hat auch die CDU längst erkannt, dass bei den sogenannten weichen Themen - wie der Familienpolitik - (zu viel) Widerstand gegen den gesellschaftlichen Wandel zwecklos ist. SPD-Politiker machen heute wiederum gerne Homestorys mit ihren Kindern. Allein dass über Schwarz-Grün geredet wird und Sigmar Gabriel davor Angst hat, zeigt die Veränderung an: Mit den "Neubürgerlichen" ist zu rechnen, wenn es um Wahlen und Allianzen geht.

Und doch darf man nicht vergessen, dass das "Bürgerliche" in der Politik vor allem auch ein Kampf- und Fassadenbegriff ist. Dem kommt die deutsche Doppelbedeutung des Wortes "Bürger" zupass, das einen politisch-gemeinschaftlichen wie auch einen soziokulturell unterscheidenden Sinn hat. Oder besser gesagt: hatte. Denn ein Bürgertum im alten Sinne, mit dynastischem Familiensinn, Hausmusik und Dienstpersonal, gibt es praktisch gar nicht mehr. Man kann es aber nachspielen. Die Soziologie spricht heute von der "Bürgerlichkeit ohne Bürgertum".

Das schöne deutsche Zauberwort sollte also die Politik über die reale Beweglichkeit der Menschen und ihrer Präferenzen nicht hinwegtäuschen. Erinnert sich noch jemand an die Aufbruchstimmung der Piratenpartei? Nein. Dennoch kann solch eine Mischung aus Nerdtum, sorglosem Neoliberalismus und echtem Engagement bald auch wieder gefragter sein.

Wie wenig sich die Parteien, auch die Grünen, auf die angeblich bürgerliche Suche nach Verlässlichkeit ihrerseits verlassen können, das zeigt sich schnell in der Arena der konkreten Politik. Ist das Betreuungsgeld nun "bürgerlicher" als der Kita-Platz? Sind Studiengebühren "bürgerlicher" als keine? Ist die Griechenland-und Banken-Rettung "bürgerlicher" als eine strikte Stabilitätspolitik? Nein, "der" Bürger ist in der Demokratie eine wunderbare Fiktion, die seine Repräsentanten im besten Fall aufs Gemeinwohl verpflichtet. Als zuverlässigem Mehrheitsbeschaffer wird man ihm aber auch in Zukunft schwer hinterherjagen können.

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